Hans-Ulrich Wehlers "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" Band 3 von 1849
bis 1914 gehört zum besten, was über diesen Zeitraum geschrieben ist.
Vergleichbar sind nur die beiden voluminösen Bände von Wolfgang J. Mommsen:
"Das Ringen um den nationalen Staat (1850-1890)" sowie der
Fortsetzungsband: "Bürgerstolz und Weltmachtstreben (1890-1918)", die
sich allerdings - ähnlich wie Heinrich August Winklers: "Der lange Weg
nach Westen" auf politische Geschichte konzentrieren. Thomas Nipperdeys
voluminöses Werk: Deutsche Geschichte von 1800 bis 1918 ist am ehesten mit
Wehlers Buch zu vergleichen. Wie Ewald Frie: "Das Deutsche
Kaiserreich" treffend bilanziert hat, geht Nipperdey jedoch weniger
systematisch als Wehler an die Deutung der deutschen Gesellschaftsgeschichte:
"Wo Wehler analysierend zergliederte, erzählte Nipperdey." Nipperdeys
Darstellung kann man daher - wie Frie - zu recht als liberalkonservative
Alternativdeutung zum sozialliberalen Unternehmen Wehlers sehen.
Am ehesten hilft der Vergleich zu Wehlers Klassiker über das "Deutsche
Kaiserreich" weiter. Dieses stellte eine kurze Einführung in die
Geschichte, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft des deutschen Kaiserreiches auf
292 Seiten dar, während im vorliegenden Band die Gesellschaftsgeschichte
Deutschland von der deutschen Doppelrevolution 1849 bis 1914 abgehandelt
wird.
Im Vergleich zu seinem früheren Werk fällt auf, dass sich Wehler von
zahlreichen seiner früheren Thesen verabschiedet hat. Wilfried Loth bilanziert:
"Der dritte Band der "Deutschen
Gesellschaftsgeschichte"...beeindruckt durch prägnante Analysen der
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die souveräne Beherrschung
einer ungeheuren Literaturfülle und die seltene Bereitschaft, aus der Kritik an
seinen früheren Thesen zu lernen und sich neuere Forschungsergebnisse zu eigen
zu machen. So wird die Charakterisierung des Bismarckreiches als
"bonapartistische Diktatur" aufgegeben, sein Kompromißcharakter
anerkannt, werden die Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte stärker beachtet
und der Machtzuwachs des Reichstages registriert."
Bismarcks Herrschaft wird - in Anlehnung an Max Weber - als charismatisch
beschrieben, anstelle des "Deutschen Sonderweges" wird abschwächend
von "Deutschen Sonderbedingungen" für die autoritäre Entwicklung ab
1862 gesprochen.
Nach wie vor kritisiere ich, dass zwar nach wie vor die Rolle Bismarcks als
zentral angesehen wird (auch wenn sich Wehler von dem Begriff der
"Kanzlerdiktatur" verabschiedet, den er in seinem früheren Werk noch
dezidiert verteidigt hatte und Bismarcks Herrschaft nun als
"charismatisch" beschreibt), jedoch die zentrale Rolle Kaiser Wilhelms
II. als entscheidendes Zentrum der deutschen Politik im Sinne einer
"Polykratie" negiert wird. Zwar konzediert auch Wehler, dass mit dem
Amt des preußischen Königs und deutschen Kaisers zahlreiche Einflusschancen
verbunden gewesen seien (S. 1016), lehnt jedoch alle Deutungen, die in Wilhelm
II. den entscheidenden Machtfaktor des nach ihm benannten "wilhelminischen
Kaiserreiches" nach 1890 sehen - etwa John C.G. Röhl - als
"strukturblinden Personalismus" ab. Dies ist schlicht falsch und wird
der Rolle Wilhelms II. nicht gerecht. Hier beschreiben die Arbeiten Röhls
meines Erachtens treffender die deutsche Realität, wenn auch - wie der
kürzlich verstorbene Historiker Wolfgang J. Mommsen treffend dargestellt hat -
die Rolle der deutschen Machteliten nicht übersehen werden darf.
Diese Kritikpunkte dürfen aber nicht dazu führen, die imposante Gesamtleistung
des Werkes - nicht so sehr in Bezug auf die politische Geschichte, wohl aber in
Bezug auf die Wirtschafts- und Sozialgeschichte anzuerkennen.
Fazit
Meines Erachtens gibt es - außer vielleicht dem dreibändigen Werk von Thomas
Nipperdey - kein vergleichbares Werk auf dem deutschen Buchmarkt. Die
Erschließung der Quellen ist - wie man auch immer zu Einzelheiten, die immer
umstritten bleiben werden, stehen mag, eine einzigartige Leistung. Das Buch ist
meines Erachtens daher in diesen Bereichen bis heute konkurrenzlos.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 05. Februar 2005 2005-02-05 20:55:13