Für ein privates Fernstudium über die neuzeitliche Geschichte von der
Reformation bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990 suchte ich einen kurzen und
kompetenten Überblick. Da fiel mir beim Recherchieren dieser Sammelband auf,
den der langjährige Bielefelder Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler, bekannt
durch seine "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" und sein bahnbrechendes
Buch zum deutschen "Kaiserreich 1871 bis 1918 herausgegeben hatte.
Vorerst wollte ich mir, der ich mich besonders für die deutsche Geschichte seit
1866 bis 1990 interessiere, einen Überblick verschaffen. Dazu eignet sich
dieser Band sehr gut. Kompetente Historiker liefern je eine Einleitung in ihr
jeweiliges Fachgebiet. Es beginnt - nach einer Einleitung Wehlers - mit einer
Betrachtung der deutschen Reformation durch den Berliner Historiker Schilling,
der sich auf die Frühe Neuzeit spezialisiert hat. Er zeigt - ebenso wie die
anderen Autoren - das Besondere, Prägende, die Weichenstellung der Reformation
in Deutschland auf, die an ältere Traditionen angeknüft habe. Konfessionelle
Zersplitterung prägte seitdem Deutschland. Diese wird von dem Göttinger
Historiker Rudolf von Thadden kompetent unterscuht. Betrachtungen zum deutschen
Bauernkrieg 1524-1526 von Winfried Schulze und zum Dreißigjährigen Krieg durch
Johannes Burkhardt schließen sich an. Besonders interessant, weil zur damaligen
Zeit gar nicht vermutet der Beitrag des Kommunikations- und Medienforschers
Bernd Sösemann über die Kommunikations- und Medienrevolution. Heinz Reif
untersucht den Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft, die sich seit
der Wende zum 19. Jahrhundert bemerkbar machte. Wolfram Siemann gibt einen guten
Kurzüberblick über die Revolution von 1848/49, Werner Abehlshauser, wie Wehler
Professor an der Universität Bielefeld und Sozialhistoriker, untersucht die
deutsche Industrielle Revolution, bevor Hans-Ulrich Wehler auf ein zentrales
Problem der deutschen Geschichte, den Nationalismus eingeht, den er für die
Zeit bis zur Gründung des Kaiserreiches untersucht. Dieter Langewiesche,
Professor für mittlere und neuere Geschichte an der Universität in Tübingen,
beleuchtet Aspekte der Reichsgründung 1866/1871. Den deutschen Sozialstaat seit
Bismarck untersucht Gerhard A. Ritter, einer der bekanntesten deutschen
Nachkriegshistoriker. Der Erfurter Historiker Gunther Mai beleuchtet Ursachen
und Verlauf des Ersten Weltkrieges, dessen Niederlage in Deutschland nicht zur
zur Auflösung des Kaiserreiches, sondern - aufgrund der
"Dolchstoßlegende" und mangelnden Entmachtung der alten Eliten zu
einer wichtigen Belastung der Weimarer Republik führte. Die Ursachen ihres
Scheiterns, die "Krise der bürgerlichen Gesellschaft" unterscuht
Bernd Weisbrot, Professor für mittlere und neuere Geschichte an der
Universität Göttingen. Dass der Nationalsozialismus durchaus auch zu
Modernisierung und Auflösung der Klassengesellschaft führte und nicht rein als
antimondernistische Bewegung zu begreifen ist, ist seit Tim Mason und Sebastian
Haffners: "Anmerkungen zu Hitler" bekannt. Joachim Radkau, Professor
für mittlere und neuere Geschichte an der Universität Bielefeld und 1998 mit
einer Veröffentlichung über das deutsche Kaiserreich, dem "Zeitalter der
Nervosität" hervorgetreten, untersucht in seinem Aufsatz genauer diesen
Aspekt, der mit "Nationalsozialismus und Modernisierung"
überschrieben ist. Ulrich Herbert, Professor für Neuere und Neueste Geschichte
an der Universität Freiburg, untersucht Ursachen, Verlauf und Auswirkungen des
Zweiten Weltkrieges, der Deutschland und der Welt unermeßliches Leid und
Zerstörungen brachte. Er führte zu einer bipolaren Welt des
Ost-West-Konfliktes und zur "doppelten Staatsgründung", die Dietrich
Staritz, geschäftsführender Leiter des Arbeitsbereichs DDR-Geschichte im
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, kompetent darstellt.
Industrialisierung und deren Auswirkungen auf die Umwelt untersucht Franz-Josef
Brüggemeier, Professor für neuere und Neueste Geschichte in Hannover, bevor
der Berliner Sozialhistoriker Jürgen Kocka in einem abschließenden Beitrag
Fakten, Probleme und Perspektive der sogenannten "Wende" seit 1982
(das Buch erschien während der "Ära Kohl" 1995) untersucht, wobei
die Ereignisse, die zur deutschen Wiedervereinigung führten, im Mittelpunkt
seiner Darstellung steht.
Den Autoren gelingt es in ihren jeweiligen Beiträgen, deutlich zu machen, dass
die jeweiligen Stationen der Geschichte "Scheidewege" gewesen sind.
Wehler erklärt im Vorwort: "Der "tatsächliche" Gang der Dinge
muß noch einmal, sorgfältiger als zuvor, identifiziert, beschrieben und
erklärt werden, nachdem die gescheiterten oder unterdrükten alternativen, die
unterlegenen Kräfte und unausgeschöpften Möglichkeiten erneut gewürdigt und
gewichtet worden sind." Genau diesen Anspruch erfüllt dieser Band. Er
zeigt, dass die Entwicklung in Deutschland seit der Reformation durchaus
"offen" und nicht "zwangsläufig" gewesen ist. "Immer
wieder tauchten auch im deutschsprachigen Mitteleuropa Weggabelungen auf (hier
werden nur einige von ihnen in den letzten fünfhundert Jahren ins Auge
gefaßt), an denen es keineswegs von vorneherein ausgemacht war, welche Richtung
die geschichtliche Entwicklung einschlagen würde." (Hans-Ulrich Wehler in
seiner Einleitung, S. 10). Dies ist sehr gut gelungen, wobei die
Ereignisgeschichte etwas gegenüber der Industrie- und Sozialgeschichte
vernachlässigt wird, was sich an der Auswahl der Historiker zeigt. Es geht
darum, Zusammenhänge geistiger, mentalitätsmäßiger, politischer und sozialer
Art aufzuzeigen. Dies ist - wenn man die Zielgruppe, historisch interessierte
Laien, die an einer einführenden Gesamtdarstellung interessiert sind - und den
daraus resultierenden Umfang des Sammelbandes (255 Seiten) berücksichtigt -
sehr gut gelungen. Jeder Beitrag enthält am Ende neben einem Anmerkungsapparta
eine kurze Auswahlbibliographie wichtiger historischer Werke, mit denen sich der
geschichtsinteressierte Laie, Schüler, Lehrer, angehende Geschichtsstudent
weiter beschäftigen kann.
Fazit
Insgesamt eine solide und hervorragende Einführung in die neuere und neueste
deutsche Geschichte, die ich für mein Fernstudium gerne in Anspruch genommen
habe.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 15. Januar 2005 2005-01-15 16:16:20