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Ruth Hoffmann: Das deutsche Alibi

Das deutsche Alibi

von Ruth Hoffmann
Verlag: Goldmann Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-442-31722-6

Preis: 24,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 13. August 2024]
Zum 80. male jährt sich in 2024 das Attentat auf Hitler am 20. Juli. Bekannt ist es als "Stauffenberg-Attentat". Der Anschlag missglückte und bereits am selben Abend im Jahre 1944 verkündete das NS-Regime, dass es sich bei den Verschwörern lediglich um eine "ganz kleine Clique" gehandelt habe. Dass es sich hierbei um eine bewusste Fehldarstellung der Bevölkerung gegenüber handelte, dürfte mittlerweile bekannt sein, lassen sich dem Kreis der Verschwörer doch insgesamt mehr als 200 Personen zuordnen. Der heutigen Öffentlichkeit bekannt ist allerdings nur eine sehr kleine Zahl von Namen, allen voran Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der den Sprengstoff versteckt in einer Aktentasche ins Führerhauptquartier nach Rastenburg geschmuggelt hatte.

Genau hier setzt das vorliegende Buch von Ruth Hoffmann an und beschäftigt sich mit eben dieser Frage, warum vor allem die beteiligten Offiziere der Wehrmacht ins Rampenlicht der Widerstandsgruppe gerückt wurden, weniger oder gar nicht die zahlreichen weiteren Mitglieder, vor allem aus den Kreisen der entschiedenen politischen Gegner der Nationalsozialisten. Einer einleitenden Einordnung des Kernthemas folgen insgesamt 10 Kapitel, die sich mit der jeweiligen politischen Sicht in verschiedenen (Nachkriegs-) Epochen auf das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 befassen. Ruth Hoffmann stützt die jeweiligen Erkenntnisse und Thesen auf eine beachtliche Zahl moderner historischer Erkenntnisse. Die jeweiligen Quellen sind (ungewöhnlich, aber durchaus interessant) über einen QR-Code abrufbar.

Die Darstellung des Attentats, dessen Gedenken und Würdigung in der Öffentlichkeit, werden chronologisch geordnet und ein Überblick über die jeweilige Darstellung in der Öffentlichkeit gegeben. Es wird offensichtlich, dass es einen (politisch begründeten) Unterschied in der Sichtweise, vor allem zwischen der alten Bundesrepublik und der DDR gab. In Westdeutschland setzte sich eine traditionelle, konservative Sicht durch. Die Autorin beschreibt die jeweiligen Hintergründe, belegt hierdurch den Fakt, dass es stets die Offiziere der Wehrmacht waren, die in den Mittelpunkt gestellt wurden, während das Gros der "Anderen" unbekannt blieb, oftmals erst gar nicht genannt wurden.

Es wird jedoch insgesamt ersichtlich, dass es im Laufe der Nachkriegs-Dekaden einen Wandel in der Sicht auf den Anschlag des 20. Juli gab, der sich zeitlich allerdings sehr langsam einstellte. Diese Entwicklung zeigt Ruth Hoffmann anhand zugänglicher Belege auf, beschreibt und kommentiert sie.
Fazit
Hitler war im Laufe seines Lebens einer Vielzahl von Attentaten ausgesetzt, die er allesamt mehr oder weniger unbeschadet überstanden hatte. Das Attentat des 20. Juli 1944 ist mit Abstand das bekannteste und gilt daher quasi als Symbol für den deutschen Widerstand während des Nazi-Regimes. Völlig zu recht betrachtet die Autorin eben diesen Fakt und ordnet das Geschehen neu ein. Nach 80 Jahren ist es an der Zeit gerade zu rücken, dass Graf Stauffenberg ohne Zweifel als ausführendes "Organ" des Anschlags fungierte und sein Name alleine schon deswegen zuerst genannt wird. Er konnte sich auf ein großes Netzwerk stützen. Das Stauffenberg-Attentat wurde zum Mythos, das sich auf verklärende Darstellungen seitens der Politik zurückführen lässt und teilweise gar politisch instrumentalisiert wurde, wie Ruth Hoffmann darlegt.

Den Blick weiten: ein mehr als berechtigtes Anliegen wie ich meine. Stauffenberg als zentrale Figur bliebe im Fokus, ohne sein Ansehen geschmälert würde. Gleiches gilt auch für weitere bekannte Namen, die vor allem dem Kreis hoher Offiziere zuordnen sind. Es geht darum, die Mitwirkung einer großen und außergewöhnlichen Allianz darzustellen. Deren gemeinsames Ziel lautete: Das Nazi-Terrorregime muss ein Ende finden!

"Dabei war gerade das Gegenteil, nämlich die Überwindung ideologischer Grenzen, das Besondere an dieser Verschwörung. Keiner der Beteiligten hätte den Plan für sich in Anspruch genommen, auch Stauffenberg nicht,. Jeder wusste, dass sie nur vereint eine Chance haben würden (...)" (siehe Buch S. 395).

Wäre die Autorin doch nur eben diesem Leitfaden gefolgt, politisch (um den Begriff ideologisch an dieser Stelle einmal zu vermeiden) unbefangen nachzugehen. Es ist ihr an gar einigen Stellen schlecht, oder auch gar nicht gelungen. Hätte ich nicht weitere Literatur zur neueren Sicht auf das Attentat gelesen, wüsste ich weiterhin sehr wenig über die Namen weiterer Beteiligter, von deren beeindruckenden Biografie einmal ganz zu schweigen. Gerade das erscheint mir essenziell, wenn es doch gilt, den Blick auf den Widerstand zu weiten. Natürlich: auch hier kann es sich lediglich um eine Auswahl handeln und ist in einem Überblickswerk auch nur ansatzweise zu leisten. Chance vertan!

Um die Leistungen des nationalsozialistischen Widerstands anhand neuer Erkenntnisse auch in ein berechtigtes, neueres Licht zu rücken, bedarf es der Erläuterungen und Kommentierungen aus der heutigen Sicht, keine Frage. Ich halte es jedoch für problematisch, wenn die Sicht der Bevölkerung und der Politiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht ebenfalls eingeordnet und erläutert wird. Eine Reihe historischer Erkenntnisse lag bereits auch kurz nach Kriegsende vor, weitere Erkenntnisse kamen jedoch sukzessive hinzu und begründen einen Wandel, selbst wenn man den Ursprung auf eine politische Vereinnahmung hin interpretieren möchte. Diese (im historischen Sinne) sachlichen Erläuterungen hätte ich in einem Werk, dass sich mit einem Schlüsselereignis der deutschen Geschichte befasst, ebenfalls erwartet. Von der Umsetzung bin ich offen gestanden enttäuscht.

Zusammenfassend: den Kern des Buches halte ich für richtig und wichtig. Die inhaltliche Umsetzung allerdings bewerte ich kritisch.
6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne

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Vorgeschlagen von Dietmar Langusch [Profil]
veröffentlicht am 13. August 2024

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