Erneut möchte ich eine fesselnde Geschichte von Elizabeth Strout, einer
erfolgreichen Autorin, vorstellen, die uns mit ihrem Bestseller »Am Meer« in
einen idyllischen Küstenort Crosby in Maine entführt. In Zeiten der
Corona-Pandemie und des Lockdowns sehnten sich viele nach einem Tapetenwechsel,
nach neuen Eindrücken und nach der beruhigenden Wirkung des Meeres.Die
Schriftstellerin Lucy war zwanzig Jahre mit William verheiratet. Mittlerweile
sind sie schon zwanzig Jahre geschieden und waren anderweitig verheiratet. Als
Lucys zweiter Mann vor fast einem Jahr verstorben war, fiel sie in ein tiefes
Loch.
Dann kam der Virus. Vor lauter Trauer hat Lucy die Wirkung des Virus nicht
wirklich wahrgenommen. Aber William war wieder näher an sie heran gerückt und
hat sie davon überzeugt, mit ihm in ein kleines Häuschen an einem Ort am Meer
zu reisen. Er wollte sie und sich vor dem Virus schützen und den Menschen im
überfüllten New York den Rücken kehren. Lucy dachte, es wäre nur für zwei
Wochen, musste dann jedoch feststellen, dass sie in dem kleinen Küstenort in
Maine wie in der Isolation lebten, die sie wegen des Lockdowns auch nicht
verlassen konnte. Übrigens kennen die Leser der Romane von Elizabeth Strout den
Küstenort Crosby bereits. Zumindest aus dem Roman »Die langen Abende« waren
sie schon mal hier und müssen sich nicht wundern, dass alte Bekannte wieder die
Wege kreuzen. Hier lernte sie auch die Situation kennen, von den Nachbarn als
arrogant als New Yorker angefeindet zu werden. Nun erlebt Lucy also den Blick
auf ihre Freunde und ihre Familie aus der Isolation heraus, aus der Ferne. Sie
hat Zeit, viel Zeit, über sehr viel nachzudenken.
Es verblüfft mich immer wieder, wie die Schriftstellerin den ganz normalen
Alltag so interessant und spannend darzustellen vermag. Sie beobachtet akribisch
ihre Umwelt und wahrscheinlich auch sich selbst. Aber das danach, vor allem die
kleinsten Gefühle, so detailgetreu darzustellen, dass nahezu jeder Leser sagen
kann "Ja, so geht es mir auch" ist einfach umwerfend.
Die Pulitzer-Preisträgerin Elisabeth Strout hat nicht nur den Blick für das
Detail, sie kann diesen auch hervorragend in Worte fassen. Wenn ich solch einen
Roman wie diesen lese, stelle ich immer wieder fest, wie wenig sich der eine
Mensch von anderen unterscheidet. Ob Amerikanerin oder Deutscher, die Gefühle
im Inneren sind die gleichen. Oder andersherum: Wie kann eine amerikanische
Schriftstellerin wissen, was ich in Deutschland fühle? Bei solch einem
Erzählstil fühle ich eine tiefe Verbundenheit mit diesem Roman. Ich erhalte
wegen des sanften Plaudertons das Gefühl, als würde die Autorin neben mir auf
dem Sofa sitzen und von sich erzählen. Sätze wie "Ich hatte noch nie ein
Arbeitszimmer gehabt. Für mich allein, meine ich. Nie." kommen so schlicht
daher, dass man sich einfach angesprochen fühlen muss.
Andererseits war dies mein erster Roman zur Corona-Pandemie. Der zeitliche
Abstand dazu war wohl ausreichend, damit ich mich jetzt wieder mit dem Thema
befassen konnte. Ich muss sagen, die Beschreibungen der Situationen, sind
wohltuend. Nicht hysterisch und schrill, sondern einfach so, wie es wirklich
war. Das hat mir sehr gefallen. Schließlich hat Elisabeth Strout den
natürlichen Mikrokosmos zu dieser Zeit genutzt, um die Beziehung der Menschen
untereinander unter die Lupe zu nehmen. Denn es geht um Liebe, große Gefühle,
Verluste, Ängste, Familie und so viel mehr als nur den Virus.
Besonders geschickt fand ich, dass die Autorin nur sehr, sehr wenig von Corona
spricht. Für sie ist es einfach nur der Virus. Der Roman erhält damit so eine
Allgemeingültigkeit, die mich beeindruckt. Sollte es in einigen Jahren erneut
eine Pandemie geben, würde dieser Roman sicher seine Gültigkeit behalten, denn
der Virus ist, wie oben gesagt, nicht der Mittelpunkt sondern nur die Schale.
Fazit
Dieser Roman von Elizabeth Strout bietet eine wunderbare Flucht in eine ruhige
und besinnliche Welt während des Lockdowns. Die vielen Geschichten und
Gedanken, die darin enthalten sind, spiegeln auf beeindruckende Weise meine
eigenen Gedanken und Gefühle wider, obwohl zwischen der Welt von Strout und mir
sicherlich ein großer Unterschied besteht. Es ist erstaunlich, wie sehr wir uns
in den Erfahrungen anderer Menschen wiederfinden können. Dieser Roman ist eine
Empfehlung für jeden, der sich nicht scheut, den Lockdown anhand eines fiktiven
Romans in Erinnerung zu rufen.
Vorgeschlagen von Detlef Knut
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veröffentlicht am 05. März 2024 2024-03-05 08:20:17