Zwischen existenziellen Krisen und den Verzweiflungen des Alltags
Es gibt diese untersuchte Haltung, dass den Menschen zwar Leid anrührt, dann
vor allem aber, wenn es persönlich, direkt und ungefiltert vor ihm steht. Die
massenweisen Krisen und dramatischen Schicksale, von denen die täglichen
Nachrichten inzwischen seit Jahren bereits gefüllt sind, führen demgegenüber
zu einem eher merkwürdigen Zustande. Auf der einen Seite der Information und
der Realisierung, dass anscheinend die Welt an zig Orten untergeht und dies
mittel ungefilterter und oft grausamer Bilder auch klar vor Augen gestellt wird,
täglich.
Und der Herausforderung, ganz einfach den eigenen Alltag zu bewältigen. Wobei
Kaminer in seiner immer leichten bis mittleren, humorvollen Art und Weise,
beides wunderbar vor Augen zu setzten versteht und, vor allem, das eine nicht
gegen das andere ausspielt, sondern am Ende die inneliegende Reibung zwischen
"allgemeinen" und zentralen Wichtigkeiten des Planeten und je Teilen
der Menschheit an Orten massiver Krisen und den ganz persönlichen
"Wichtigkeiten" im Alltag, in der Familie, im Umfeld, bei der Arbeit
und an allen möglichen anderen Orten einander beleuchtend in den Raum der
Seiten stellt. Und das natürlich auf der Blaupause des Krieges in der Ukraine,
der Entwicklung der russischen Gesellschaft und der "Gewöhnung", die
allenthalben selbst bei drastischen Ereignissen den Alltag mehr bestimmt auf
Strecke als die Gräuel der Welt.
Eine Lebenssituation, die in der Gegenwart auf die Spitze getrieben erscheint.
Selten, außer zu umfassenden Kriegszeiten, waren die Probleme der
Gesellschaften zu greifbar, von Naturkatastrophen, kippenden Klima, brutalem
Krieg und inneren Bedrohungen mannigfaltiger Arten getrieben. Und ist eben, wie
zu allen Zeiten, der "ganz normale" tägliche Aufgabenberg ja auch zu
bewältigen. Von digitalen Problemen, entleerten Handys, missliebigen Kollegen
oder Nachbarn bis hin zur lieben Familie mit ihren vorhandenen Animositäten und
Empfindlichkeiten.
Und immer wieder überschneidet sich all dies im eigenen Erleben. Wie bei jenem
Lehrer ("ein Mann mit weißem Bart, der nicht in Rente gehen wollte"),
der eines Tages seiner ersten Klasse der Grundschule mal politische Information
nahezubringen gedachte. Was trotz rascher interner Beilegung natürlich weite
Kreise zog, befeuert durch die Interessen der verschiedenen Parteiungen.
"Die Russophobie ist auf dem Vormarsch". Was umgehend die
Schwiegermutter des Autors aus dem Nordkaukasus auf den Plan rief.
Und auch innerfamiliäre Schlichtungen, die es doch ein Leben lang getan haben
("Ein gutes Frühstück lässt alle Albträume vergessen")
funktioniert nicht mehr so einfach, wie noch vor einigen Jahren. Dazu ist die
Lage da draußen dann doch wieder zu ernst. Meint "Mama".
"Hierzulande hat man sich schon immer gerne mehr über das gesorgt, was
kommen konnte als über das, was gerade war".
Und wenn eine Sorge über das, was ist, mal sehr berechtigt wäre, dann geht
dies leicht unter im Taumel zigfacher Aufregungen, die von morgens bis abends
durch den Äther laufen und wenig Unterscheidung darin in sich tragen, ob nun
tatsächlich die persönliche Welt aktuell bedroht ist oder eben eher nicht.
Während man dringend das Ladekabel für das Handy immer noch am Suchen ist.
Dabei verballhornt Kaminer das alles ja nicht, sondern findet feine Wege,
Übertreibungen zu entlarven, das menschliche Wesen, was sich immer selbst am
nächsten ist in seinen Dringlichkeiten vor Augen zu stellen und dennoch immer
wieder die "allgemeine Lage" in eine erläuternde Verbindung zu all
dem Alltag zu stellen. Denn am Ende kommt die allgemein Lage aus den vielen
Alltäglichkeiten der Menschen und ihrer ruhelosen Aufregung um alles, was
persönlich belästigen oder gefährden könnte.
"Denn wie Wirklichkeit war bitter. Der Tod macht keine Mittagspause"-
vor allem nicht im Krieg. Dazu aber ist zu betrachten: "Den ganzen Sommer
diskutierten wir beim Aperol Spritz mit kompostierbaren nachhaltigen
Biostrohhalmen, die sich im Glas nach drei Minuten auflösten, woran wir
letztendlich zu Grunde gehen würden" - was für ein in sich paradoxes,
aber äußerst treffendes Sprach-Bild.
Fazit
So führt die Lektüre am Ende auch dazu, in ironischer Überspitzung Lesern und
Leserinnen vor Augen zu führen, dass die eigenen Wichtigkeiten und lautstarken
Meinungen nicht unbedingt Lösungen für die großen Probleme enthalten. Und man
diese nicht zur Seite schieben sollte. Es gibt tatsächlich Wichtigeres.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 09. Oktober 2023 2023-10-09 14:44:58