Bestens passend in die aktuelle Diskussion über den Kolonialismus
Es ist, neben anderen zentralen Problemen der Zeit wie Krieg und Klimakrise,
eine der wesentlichen Diskussionen der Gegenwart. Das Beruhen des Wohlstands der
westlichen Zivilisationen auf jahrhundertlanger Ausbeutung der sogenannten
"dritten Welt", der ehemaligen Kolonien, des, man muss es so sagen,
Raubes an Kultur, Rohstoffen, Menschen, Wirtschaftskraft und ständiger
Destabilisierung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse an diesen
Orten ob des eigenen materiellen Vorteils willens. Eine Haltung, die, schaut man
genauer hin, auch in der Gegenwart joch durchaus verbreitet ist, nur verdeckter
vielleicht abläuft oder anders genannt wird. Und bei der sich ein Teil der
Protagonisten geändert haben mag.
Eine Geschichte der Ausbeutung und der "Umerziehung", besser gesagt,
Unterdrückung der einheimischen Kulturen und Bräuche, bei denen Kirche,
Christentum und Herrscher Hand in Hand vorgingen. Und eine Geschichte, die
vielleicht Niederschlag in der eigenen Familiengeschichte gefunden hat? So
zumindest der Ausgangspunkt dieses Romans von Katharina Döbler. Die ihre
"Oma" eben nur als die "gute, disziplinierte, alles
zusammenhaltende Oma" kannte. Teil der Familie, Hort der Geborgenheit. Als
Kind und Jugendliche nicht hinterfragt. Nur um dann, ab einem gewissen
Zeitpunkt, festzustellen, dass auch die "Oma" mal jung war,
auswanderte, verliebt war. Aber, anders als die meisten anderen, an dieser
Geschichte der Unterdrückung tatsächlich realen Anteil hatte. Zumindest mit
dabei war. Als Begleiterin Ihres Ehemannes, der als
"Südsee-Missionar" in Neu-Guinea zunächst eine jener, aus heutiger
Sicht, unrühmlicher Karrieren seiner Zeit gestaltete. Und das nicht unbedingt
mit christlicher zugewandter Nächstenliebe den Ureinwohnern jener Region
gegenüber. Die ja generell kulturell und auch aus kühlen, wirtschaftlichen
Interessen heraus als "Untermenschen" zunächst gekennzeichnet
waren.
"….und ich fragte mich zum ersten Mal, was die Weltgeschichte mit meiner
Großmutter zu tun hatte".
Nicht wenig, wird die Antwort im Buch sein. Die den Lebensweg von "Oma
Linette" nachvollzieht und Leser und Leserinnen in ruhigem Tonfall,
gründlich und mit viel Atmosphäre, ebenso wie Schaudern, mitten hinein in jene
"Hoch-Zeiten" der Ausbeutung und der "christlichen
Unterweisung" mit hineinnimmt.
"mein Großmutter war anders als alle anderen Menschen meiner
Welt…….Sie weinte im Schlaf" - was nicht nur für die Großmutter gilt,
wie der Stammbaum zu Anfang des Romans bereits zeigt. "Und genauso war
meine Familie. Gezaust und irgendwie davongekommen, die erwachsenen erfüllt von
einer tropischen Müdigkeit, die aus der Vergangenheit stammte" - eine
Geschichte, die im Buch 1913 mit dem Aufbruch aus der alten Welt nach Amerika
für Linette beginnt und Mitte der 40er Jahre mit dem "wegweichen" von
verschiedenen Orten der Südsee zurück enden wird.
"Einen Monat später stand plötzlich ein Soldat in Christines
Klassenzimmer und erklärte den Kindern der edelsten Rasse der Welt: Wir haben
euch befreit!" - was eher für deren Gegenpart, den Menschen um sie herum
am fremden Ort, wohl zugerufen werden sollte zu diesem Zeitpunkt im Buch.
Fazit
Wobei Döbler all dies durchaus differenziert erzählt und die Prägung, die
wenigen Möglichkeiten der Familien in der Provinz in Deutschland jener Zeit mit
anführt und damit ebenso die Mentalität der "Normalität" der
christlichen Mission vor Augen führt, die heutzutage kaum mehr vorstellbar ist
in Deutschland oder Europa, durchaus aber von großen amerikanischen
Freikirchen, anders als damals, und dennoch weiter praktiziert wird.
Was als Hintergrund eben jenes Leid, dass die "guten Absichten" für
so viele Menschen in fernen Ländern mit sich brachte, bestens in den Kontrast
setzt und den Leser und die Leserin trotz des sehr ruhigen Erzähltons von der
ersten bis zur letzten Seite in der Lektüre hält.
Ein sehr empfehlenswertes Buch.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 19. April 2023 2023-04-19 13:01:18