Meinungsfreiheit ist eines der Kernelemente unseres Grundgesetzes. Sie wird
allen Bürgern der Bundesrepublik gewährt und garantiert, sofern sie sich im
Rahmen der gesetzlichen geltenden Normen bewegt und die Würde anderer Personen
nicht verletzt. In diesem Kontext ist auch die Pressefreiheit zu sehen. Sie
stellt eine wesentliche Form der Meinungsäußerung dar, da sie ausdrücklich
nicht ausschließlich der Meinung innerhalb der Medien dienen soll, sondern auch
einer objektiven Informationsvermittlung der Bevölkerung gegenüber
verpflichtet ist. Hierbei können die Medien eine Art
"Kontrollfunktion" der Politik gegenüber wahrnehmen, gerieren sich
jedoch in diesem Zusammenhang gerne als "die vierte Gewalt". Genau
diese Sichtweise haben die Autoren als Titel ihres jüngst erschienenen Buches
gewählt.
Am Beispiel des russisch-ukrainischen Krieges machen die beiden Autoren gleich
zu Beginn ihre Kritik fest. Alle großen Medien vertreten nahezu im Gleichklang
den Tenor: das Böse (also Russland bzw. dessen Präsident Putin) muss bekämpft
werden und damit das Gute (demzufolge die Ukraine) obsiegen kann, muss
sämtliche Unterstützung, inklusive der Lieferung aller notwendiger
Waffensysteme, von allen demokratischen Staaten ohne wenn und aber
sichergestellt werden. Geraten Politiker und auch ganz "normale"
Bürger ins Abseits, wenn sie eine hiervon abweichende Meinung haben? Ja - mehr
noch: ist eine abweichende Meinung überhaupt akzeptabel, wenn doch alle
vernünftigen Menschen offenbar ins gleiche Horn blasen? Es ist ein Beispiel,
aufgrund seiner bedauerlichen Aktualität gewählt, um klar zu machen, woran die
Kritik der Autoren ansetzt. Die Medien scheinen auf das indifferente
Meinungsbild der deutschen Bevölkerung bezogen auf die Waffenlieferungen wenig
Rücksicht zu nehmen.
Im Verlauf des Buches erfährt die Leserschaft, wie es zu erklären ist, dass
-insbesondere bei großen Ereignissen und Krisen- das Gros der JournalistInnen
häufig einer Meinung zu sein scheint, dies publizieren und vehement
rechtfertigen. Psychologische Faktoren spielen eine wesentliche Rolle, aber auch
die Rolle der sozialen Medien und der zunehmende Drang, stets auf dem
aktuellsten Stand zu berichten werden beleuchtet. Während sich die Printmedien
in einem Abwärtstrend befinden, ist bei den internetbasierten Angeboten großer
Redaktionen ein gegenläufiger, ansteigender Trend feststellbar.
Damit die eigenen Meldungen eine Marke setzen, spielt die Ausgestaltung und
Formulierung der jeweiligen Schlagzeile eine ebenso große Rolle, wie die Wahl
von Begriffen, die bei den großen Suchmaschinen besonders häufig angefragt
sind und richtig genutzt, Suchergebnisse auf die News eben dieser Medien in
möglichst großer Zahl garantieren. Die eingangs aufgezeigte Problematik weist
aus Sicht der Autoren in eine ungünstige Richtung: zu wenig kontroverse
Diskussion - einem Markenkern unserer Demokratie. Ließe sich durch einen
verstärkten Diskurs der Vertrauensverlust in die Medien revidieren und würde
helfen, den Filterblasen des netzbasierten Informationsstromes und seiner
gefährlichen Auswüchse Einhalt zu gebieten?
Fazit
Precht und Welzer gehen eine brisante Frage an. Sie werden nicht damit gerechnet
haben, dass die Kommentierung seitens der JounalistInnen wohlwollend ausfallen
wird. Und sie haben recht behalten; seitens der Medien hagelt es massive Kritik.
Selbst der scheidende ukrainische Botschafter hat bereits vor Erscheinen des
Buches vor dessen "Genuss" gewarnt. Wird doch ausgerechnet die
scheinbar einhellige Unterstützung in punkto Waffenlieferungen an die Ukraine
von den beiden Autoren gleich zu Beginn (und an weiteren Stellen) des Buches in
Frage gestellt. Nun ist Herr Melnik für seine weniger diplomatische Wortwahl
durchaus bekannt und als Vertreter eines Landes, dass um seine Existenz kämpfen
muss, ist seine Meinung sicher auch zu verstehen und ebenso zu deuten. Ich
bezweifle jedoch, dass die große Zahl der JournalistInnen sich einen Gefallen
tut, wenn sie den Kern der Kritik, der sich im vorliegenden Buch finden lässt,
umschiffen und sich statt dessen in der scheinbaren Ahnungslosigkeit der Autoren
über journalistische Abläufe in den Redaktionen verbeissen. Thema verfehlt!
Eine vierte Gewalt kennt unser Grundgesetz nicht. Daher ist es keineswegs
selbstverständlich, dass ein Berufsstand, deren Mitglieder frei und unabhängig
informieren wollen (und sollen), sich zu einer Staatsgewalt aufschwingen und
selbst bestimmen, wie die Ausübung der hiermit verbundenen Kontrollfunktion
umgesetzt wird. Das Prozedere, dem sämtliche im Grundgesetz verankerten
Staatsgewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) unterworfen sind, worin
freie Wahlen und/oder eine Nominierung/Berufung durch demokratische
Institutionen festgelegt sind, bleibt ihnen "erspart".
Genau hierin sehe ich die Chance und die Aufgabe der Medien: kritische,
objektive und multiperspektivische Berichterstattung und Information der
Menschen. Die Förderung der Mündigkeit zur eigenen Meinungsfindung, wird durch
kontroverse Berichterstattung gefördert. Eine hohes Gut und eine
Herausforderung gleichermaßen; eben eine Aufgabe für Qualitätsjournalismus.
Den Mut der Autoren, den Finger in die Wunde zu legen, finde ich bemerkenswert
und wichtig und richtig. Es bleibt daher zu hoffen, dass möglichst viele
Menschen dieses Buch lesen oder hören. Zu wichtig ist das Kernthema, als dass
man es einfach beiseite wischen dürfte. Das gilt auch (oder gar insbesondere),
wenn man in der Deutung der durch die Autoren gewählten Beispiele und deren
subjektiver Deutung ausdrücklich nicht zustimmt, wie es bei mir an
verschiedenen Stellen der Fall war.
Vorgeschlagen von Dietmar Langusch
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veröffentlicht am 08. Oktober 2022 2022-10-08 14:15:50