Zwischen Traum und Wirklichkeit
Ostafrika, Ende des 19. Jahrhunderts: In Zeiten des Kolonialismus wird Yusuf von
seinen Eltern als Pfand an einen geschäftstüchtigen, reichen arabischen
Händler abgegeben. Dem 12jährigen Jungen bleibt nichts anderes übrig, als
sich in sein Schicksal einzufinden. In seinem neuen Zuhause freundet er sich mit
dem älteren Khalil an, dem ebenfalls das gleiche Los widerfahren ist. Ihr
gemeinsamer Mittelpunkt ist ein Einkaufsladen. Entwurzelt und einsam, versucht
Yusuf, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Er träumt vom Paradies und
interessiert sich für das Schöngeistige. Aber sein Alltag zeigt sich ihm in
einem anderen Gesicht.
In seinem vierten Roman erzählt Abdulrazak Gurnah die Geschichte seines
Heimatlandes. Mehrere Jahrhunderte zurückgehend, reflektiert er in einer
ruhigen, klaren Sprache die Entwicklung Ostafrikas von einem eigenständigen
Volk zu einer zerstörten Nation. Gekonnt beschreibt der Schriftsteller die
profunden Veränderungen in Afrika, die indische Geldgeber und arabische
Karawanenhändler in das Land einbrachten. Unterschiedliche religiöse
Überzeugungen, Respektverlust gegenüber Frauen und Sklavenhandel lösten die
traditionellen Werte des afrikanischen Volkes ab. Hinzu kommt noch die
zunehmende Präsenz der Europäer, die jedoch eine untergeordnete Stellung in
diesem Roman einnimmt. Das Buch verbreitet beim Lesen eine düstere Stimmung,
die noch verstärkt wird durch Yusufs weiteren Lebensweg.
Von seinem Vormund wird er auf eine Handelsexpedition in das Innere des Landes
mitgenommen. Dort erfährt er mit voller Wucht das abenteuerliche Leben des
Händlers auf Reisen. Menschlich entwürdigende Umgangsformen, Szenen voller
Gewalt, Menschenhandel und Ausbeutung sind an der Tagesordnung. Aber Yusuf,
inzwischen 17 Jahre jung, hält, trotz viel erlebter Grausamkeiten, an seinem
Traum vom Paradies fest. Ein umfangreiches Glossar rundet die Geschichte zu
einem interessanten, mitreißenden Leseerlebnis ab.
Abdulrazak Gurnah wurde 1948 im ehemaligen Sultanat Sansibar geboren. 1967
wanderte er nach Großbritannien aus. Dort studierte er englische
Literaturwissenschaften mit anschließender Promotion. Nach einer
Dozententätigkeit 1980 in Kano, Nigeria, kehrte er 1983 nach Großbritannien
zurück. Bis zu seiner Emeritierung 2017 hatte er an der University of Kent
eine Professur inne. Dort lehrte er englische und postkoloniale Literatur. Heute
lebt er in Canterbury, Kent. Der Schriftsteller gilt als einer der bekanntesten
Vertreter der ostafrikanischen Literatur. 2021 wurde Abdulrazak Gurnah für
seinen historischen Roman "Das verlorene Paradies" mit dem Nobelpreis
für Literatur ausgezeichnet.
Fazit
Abdulrazak Gurnah ist mit " Das verlorene Paradies" ein kluger und
fesselnder Roman über die Zeit vor der europäischen Kolonialisierung in
Ostafrika gelungen. Ein Stück Zeitgeschichte, lebendig und feinnervig erzählt.
Vorgeschlagen von Heike Jaschhof
[Profil]
veröffentlicht am 14. Juli 2022 2022-07-14 13:31:47