"Thukydides aus Athen hat den Krieg zwischen den Peloponnesiern und den
Athenern beschrieben, wie sie ihn gegeneinander geführt haben...denn dies war
die gewaltigste Erschütterung für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja
sozusagen für den größten Teil der Menschheit." (Thukydides I 1-2)
Mit diesen Worten beginnt das wohl bedeutendste Geschichtswerk der Antike und
eines der wichtigsten Werke der gesamten Weltliteratur. Thukydides, ein
ehemaliger athenischer General, beschrieb in diesem Werk minutiös, wie es zu
dem Peloponnesischen Krieg kommen konnte, diesem "antiken Weltkrieg",
der fast 30 Jahre lang tobte (431-404 v. Chr.) und die griechische Welt für
immer verändern sollte. Durch diesen Krieg wurde sowohl Athens Hegemonie
beendet als auch die vielleicht produktivste Phase der antiken Geschichte.
Sparta ging zwar siegreich aus dem Konflikt hervor, konnte seine
Vormachtstellung aber nur wenige Jahre sichern bevor es selbst um seine Existenz
kämpfen musste.
Thukydides Einfluss noch auf die moderne Geschichtsschreibung ist unglaublich
groß. Denn er unterschied zwischen den reinen Anlässen des Krieges und den
(seiner Meinung nach) wirklichen Ursachen und vollzog damit den Übergang zu
wissenschaftlicher Arbeit. Anders als Herodot wollte er sich nicht an Gerüchte,
sondern nur an Fakten halten, auch wenn er dem Zufall (Tyche) eine bedeutende
Rolle zuwies. Thukydides hatte frühzeitig erkannt, dass dieser Krieg nicht
wieder ein beliebiger Konflikt zwischen mehreren Poleis (Stadtstaaten) war,
sondern dass es hierbei um existentielle Fragen des Zusammenlebens der beiden
großen Machtblöcke (eben Athen und Sparta) ging. Die einen wollten ihre Macht
und Hegemonie bewahren, während die anderen unter Führung Spartas mit dem Ruf
nach Autonomie und Freiheit antraten, um ihre eigenen Interessen
durchzusetzen.
In acht Büchern beschrieb Thukydides diesen Konflikt, der von Kleinasien bis
nach Sizilien tobte und der blutigste war, den die antike Welt bis dahin gekannt
hatte. Allerdings bricht seine Darstellung im Jahre 411 v. Chr. ab und wurde vom
weniger begabten Xenophon in seiner "Hellenika" fortgesetzt. Oft wird
diese "griechische Tragödie" mit dem Ersten Weltkrieg verglichen,
denn für die griechische Welt stellte dieser Konflikt eine ähnlich tiefe
Zäsur dar wie diese "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" für Europa.
Nie wieder sollten sich die Griechen davon erholen. Am Ende dieses Weges stand
Philipp II. von Makedonien und dessen Sohn, Alexander der Große.
Sicherlich sollte man solche Vergleiche nicht zu weit treiben; Geschichte
wiederholt sich nicht und beide Situationen sind doch völlig unterschiedlich
und selbstständige Prozesse. Doch erkennen moderne Forscher viele Analogien
zwischen damals und heute. So wird oft in Diskussionen von namenhaften
Politikwissenschaftlern (wie Herfried Münkler) darauf hingewiesen, man solle
Thukydides lesen, wenn man die derzeitigen amerikanischen Hegemonialbestrebungen
verstehen will. Besonders der berühmte Melier-Dialog (Thuk. V 85 ff.) ist noch
heute ein Fallbeispiel par exellence für die Arroganz einer Hegemonialmacht. In
diesem Dialog erklärten die Athener den Bewohnern der Insel Melos kalt
lächelnd, dass sie nicht auf bestehende Verträge pochen könnten, denn nur
gleichstarke Mächte müssten sich an solche Formalitäten halten. Doch auch
Athen sollte 404 v. Chr. erfahren, welche Folgen die Macht des Stärkeren für
den Schwächeren haben konnte...
Fazit
Thukydides, dessen Worte zur Demokratie am Beginn der des ersten Entwurfs zur
EU-Verfassung standen (Thuk. II 37), beschrieb nicht nur einen Krieg, sondern
entblößte auch die Funktionalität der Machtpolitik und die Triebfedern einer
Hegemonialmacht. Es ist beeindruckend, wie klar und logisch er dies vor über
2400 Jahren vollführte. Dennoch muss gesagt werden, dass er manchmal höchst
selektiv Geschehnisse darstellte, so dass er als Quelle zwar immer in Verbindung
mit anderen Autoren gelesen werden sollte (auch wenn er die zuverlässigste
Quelle ist und bleibt), doch tut dies dem Wert seiner Abhandlung keinen
Abbruch.
Es ist auch heute noch ein intellektuelles Vergnügen, diesen Text zu lesen.
Allerdings stellt er keine leichte Kost dar. Wer sich jedoch davon nicht
abschrecken lässt, wird von der Lektüre dieses Klassikers begeistert sein -
und einige erschreckende Ähnlichkeiten zur heutigen Zeit feststellen.
Thukydides ist eben aktueller denn je und sollte, zumal in dieser günstigen
Reclam Übersetzung, die auch nahe am Originaltext ist, in keiner Bibliothek
fehlen.
Es sei angemerkt, dass 2003 ein neues Buch von Donald Kagan (einem der
bedeutendsten Militärhistoriker und bestem Kenner des Pelopon. Krieges)
erschienen ist, welches sich hervorragend als Ergänzung zu Thukydides eignet
(Donald Kagan, The Peloponnesian War).
Vorgeschlagen von B. Kiemerer
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veröffentlicht am 03. Juli 2004 2004-07-03 14:05:07