Weiter, immer weiter und vor allem zurück
Neues entsteht. Passiert. Steht eines Morgens am Himmel. Ein neuer Stern.
"Morgenstern". Und nichts bleibt, wie es war. Subtil zunächst, dann
aber massiv. Das Grauen nimmt Platz in der Welt von fünf Menschen und in der
ganzen Welt um sie herum. Aber erst mal ist Urlaub. Nicht ungestört, aber wie
über so gut wie alles andere in diesem modernen Leben, kann man auch mit einer
kleinen Katze ebenso beiläufig verfahren.
"Aber verflucht nochmal, es war nur eine Katze. Und wenn sie noch nicht tot
war, als ich sie begrub, war sie es jetzt auf jeden Fall".
Ein Geschehen zu Beginn an einem der ersten Urlaubstage von Arne und seiner
Familie. Da lag dieses Kätzchen, ein Unfall, ein Übersehen, ein Versehen..
Aber auch ein Geschehen, das den hintergründigen roten Faden dieses
episch-breiten neuen Werkes von Knausgard aufzeigt. Denn auch wenn dieser
tödliche Unfall aus einem Übersehen heraus geschehen ist, als unverhofft ein
Fuß sich auf eine Katze senkte, dann ist das ebenso ein Bild für den Zustand
der Menschheit zur Zeit, wie es die vielen Erlebnisse, Alltäglichkeiten, Fragen
der fünf Protagonisten sind, die ruhig, breit, gemächlich um sich selbst
kreisen erzählt werden.
Kleine Katastrophen im Buch korrespondieren in der dann aufgezeigten Haltung und
allgemeinen Verfasstheit der Protagonisten mit dem Alltag "außerhalb"
des Buches. In dem in komprimierter Zeit von 3-4 Jahren nun eine Krise die
nächste jagt, sich mehr und mehr die großen Erschütterungen der Welt und die
kleinen Schicksale und das immer mehr "schauen, dass man irgendwie die Nase
über Wasser hält" miteinander aufschaukeln und die Informationen und
Nachrichten kaum mehr hinterherkommen. Dass selbst die lange Monate bedrohliche
Pandemie im Blick auf einen neuen Krieg nach hinten rutscht und die ständig
sich steigernden Alarmmeldungen der Klimaveränderungen zwischendrin um
Aufmerksamkeit zu buhlen haben.
All dem korrespondiert jener "Morgenstern" als Summe
"bedrohlicher", grauenhafter Möglichkeiten. Gesteigert gerade
dadurch, dass nicht zu bestimmen ist, was dieser Sten genau ist, woher er kommt,
was er bewirkt (und er bewirkt einiges im Buch, was all jene Veränderungen
hervorruft, die durchaus mit jener Katze, die plötzlich noch oder wieder zuckt
in ihrem Grab, vergleichbar ist).
Tiere ändern ihr Verhalten von jetzt auf gleich, Zombies scheint es wirklich zu
geben, nichts stimmt mehr so richtig, sieht aber natürlich noch ähnlich aus.
So dass sich die Protagonisten schon zurechtfinden noch in der äußeren Welt
und, je länger die Geschichte sich entfaltet und je drängender Gefahren
hintergründig sich bemerkbar machen und nicht aufgelöst werden, die fünf
Menschen dann doch lieber um sich selbst weiter kreisen und die Dinge ihres
Alltags. Denn bewältigen, verstehen können sie sowieso nicht, warum und in
welche Richtung sich alles verändert. Und welcher einzelnen Person ginge es
groß anders in der echten Welt? Und doch dringt hier und da die innere
Mutlosigkeit, das fast zerrieben worden sein im Lauf der Jahre und der Welt,
zaghaft nach vorne.
"Als Kind hatte ich geglaubt, der Mond wäre der Stern von Bethlehem. Alle
glaubten das. Oh Gott, wenn ich doch wieder dort sein könnte. Bei Mutter und
Vater und dem kleinen Tore……ich bekam solche Angst, dass ich unfähig war,
mich zu rühren".
Und dann findet Turid den Patienten, der gesucht wurde. Und nicht nur ihn.
Sondern auch einen, der erkennbar "nicht von dieser Welt" ist. Oder
zumindest bis vor Kurzem nicht hätte sein können. Und während dem Leser bei
dieser Begegnung ebenfalls das Grauen langsam innerlich hinauf kriecht,,
wechselt de Perspektive. Im Übrigen ein durchgehendes Stilmittel im Werk. Immer
wenn man meint, jetzt müsse man hindurch um klarer zu sehen, gestaltet
Knausgard einen neuen Ansatz und nimmt neuen Anlauf. Was die Spannung zumindest
nach der ersten Hälfte des Buches trotz des sehr ruhigen Erzähltempos
unvermindert hoch hält. Und eine echte, klare, verständliche Auflösung, nach
der man beruhigt wieder seinen alltäglichen Dingen nachgehen könnte, nicht
bereit hält. Zu Recht nicht. Denn nur ohne diese klare Auflösung ist stimmig,
wie Knausgard den Zustand der Welt und das Innenleben der Menschen so umfassend
in seinem Roman aufzeigen kann.
Auch dieses widerfährt nicht nur dem Leder, sondern auch den Protagonisten und
da es sich nicht löst, wird der Alltag weitergelebt. Unruhig im Gefühl, aber
das kann man ja versuchen, zu ignorieren. Und doch löst sich die Spannung nicht
auf und damit erschafft Knausgard auf den fast 900 Seiten des Romans einen
symbolischen Vergleich zum Leben angesichts apokalyptischer Drohungen. Das dabei
diese einfachen, praktischen Verrichtungen, sich versorgen, shoppen, spielen,
Zeit verstreichen lassen, putzen, so einfach nicht mehr gehen, nicht angesagt
sind angesichts düsterer Gestalten in Wäldern und durchschüttend kreischender
Vögel, das ahnt der Leser, das ahnen die Personen im Roman, aber dem geht man
lieber nicht nach. Außer man wird konfrontiert (mit starken Szenen, die einem
Stephen King auf der Höhe seiner Schaffenskraft nicht nachstehen).
Aber auch in der wahren Welt, auch dort ist dem einzelnen scheinbar sein
vertrauter Lebensrhythmus, sein nach oben Stellen der eigenen Bedürfnisse und
zudem zu versuchen, die Welt ständig in den engen Kreis des eigenen
Tellerrandes hinein zu zwingen ja die Regel. So passt es gut, dieses "Mund
abputzen und weiter" und dann sich eben unter neuen Bedingungen mit alten
Abläufen wieder zurechtfinden.
"Wohnte ich hier? Im Wald? Oder machte ich nur einen Spaziergang? Und wer
war ich? Wusste ich das nicht"?
Und wenn dann noch einer "Die Weltgeschichte des Totenreichs" aus dem
Regal nimmt, dann winkt es massiv, der Blick aus dem Buch heraus auf die reale
Welt.
"Was machen wir mit dem, was wir zwar ahnen, aber nicht wissen können? Wir
verschießen die Augen davor". Und heben das Gewohnte nach oben. Wird schon
weitergehen.
Fazit
Fesselnd, banal, spannend, breit erzählt und insgesamt ein intensiver Blick auf
den Zustand der Welt angesichts mannigfaltiger, jede für sich
"lebensbedrohender" Krisen, der den Leser weder während der Lektüre
noch danach loslässt. Eine Lektüre, die ein echtes Ereignis darstellt.
Spätestens nach dem letzten Satz treibt es durchaus weiter um, dieses,
"dass es jetzt begonnen hat"!
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 23. Mai 2022 2022-05-23 11:49:13