Als Lena Goreliks Familie in die Bundesrepublik aussiedelt, ist sie 11 Jahre
alt. Aus der klugen Schachspielerin, die schon früh angehalten wird Denken zu
lernen und ihre Zeit nicht zu verschwenden, wird ein Flüchtlingskind aus dem
Übergangswohnheim. 2004 hat Gorelik in "Meine weißen Nächte" die
unvergessliche Szene dokumentiert, wie ihre Mutter – kaum in Deutschland
angekommen - dafür kämpft, dass Lena eine normale deutsche Grundschulklasse
besuchen kann, weil sie die Anforderungen in einer Übergangsklasse für zu
gering hält. Die Schülerin von damals, die sich mit Anfang zwanzig in ihrem
ersten biografischen Text "aus dem Fremdsein heraus schreibt", ist
heute selbst Mutter. Das Aufwachsen ihrer eigenen Kinder mit Deutsch als
Muttersprache lässt wie unter dem Vergrößerungsglas Goreliks eigenes
Verpflanztwerden in eine andere Kultur hervortreten, in der Eltern wieder zu
Kindern wurden, angewiesen auf ihre Kinder als Dolmetscher. Am kontroversen
Begriff der Freiheit lässt sich miterleben, wie Eltern und Tochter sich
zusammen mit der Bedeutung erst erarbeiten, was in diesem neuen Staat erlaubt
oder verboten ist.
Gorelik gibt in diesem Band all dem breiten Raum, das ihre Eltern und ihre
Großmutter in Russland zurücklassen mussten. Das Schicksal des Opas, der als
"Blockadekind" während der deutschen Besetzung Leningrads gehungert
hatte, prägte die Familie bis in die Gegenwart. Ebenso der Vater, der nicht zum
ehemaligen Kriegsgegner ziehen wollte, die Mutter, deren Berufsabschluss in
Deutschland nicht anerkannt wurde, die Großmutter, die irgendwann alle
russischen Bücher der Stadtbücherei ausgelesen hatte und ohne den
Gemüsegarten ihrer Datscha leben musste. Sehr berührt hat mich als Mutter
Goreliks Leben mit zwei Sprachen und wie in jeder der beiden Sprachen Begriffe
und Empfindungen unübersetzbar bleiben. Begreifbar wird hier, wie die Autorin
jeweils die Sprache auswählt, die ihr für einen gewünschten Kontext präziser
scheint und ihr "am besten gehorcht". Stärker jedoch als das Herz der
beiden Sprachen unterscheidet die übersiedelten Eltern und die als Autorin
erfolgreiche Tochter heute das Temperament, mit dem sie ihr Leben anpacken.
Neben der Schnittstelle zwischen ihrer eigenen Muttersprache und der Sprache, in
der Lena Goreliks Kinder aufwachsen, geht es hier um das Abnabeln der zweiten
Generation aus einer Familie, die ihre Pläne nur verwirklichen konnte, weil
jeder für das Projekt Aussiedlung seine persönlichen Glücksvorstellungen
hinter die Interessen der Familie zurückstellte.
Fazit
Lena Goreliks Erinnerungen springen zwischen ihrem Leben als Autorin und Mutter
heute, ihrer Familiengeschichte und dem Aufwachsen mit zwei Sprachen. Ein
wichtiges Zeitzeugnis in einer Gesellschaft, die gern verdrängt, dass sie eine
Einwanderungsgesellschaft ist.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 05. August 2021 2021-08-05 08:08:25