Wenn man feinfühlige Romane mag, kann mit diesem nichts schief gehen. Der Roman
der Italienerin spielt in New York und ist eine italienisch-amerikanische
Tragödie.
Das aus Italien stammende Ehepaar Larissa und Michele sind die Hauptfiguren,
neben ihrem vor fünf Jahren aus dem Leben geschiedenen Sohn. Vor allem Michele
kann sich nach all diesen Jahren nur sehr schwer daran gewöhnen, dass ihr
geliebter Sohn nicht mehr lebt. Es treibt ihn immer noch die Frage nach dem
Warum. Denn der Sohn ist freiwillig ohne jede Ankündigung selbst aus der Welt
gegangen, hat seine Eltern und seine Ehefrau plötzlich und ohne jede Zeichen
einer Ankündigung alleine gelassen. Oder nicht? Gab es Anzeichen dafür? Hatte
er, Michele, sie übersehen?
Micheles Selbstzweifel werden zudem damit angestachelt, als die verwitwete
Schwiegertochter ihm mitgeteilt, dass ihr Sohn ein Kind mit einer anderen Frau
hatte. Zum Zeitpunkt seines Selbstmords war das Kind bereits drei Jahre alt.
Chiara Marchelli hat einen hinreißenden, philosophischen Schreibstil, denn der
Leser erfährt sehr viel aus den Gedanken der Figuren. Dies erinnert an die
großartigen Romane von Pascal Mercier. Meistens ist es Michele, der sich den
Kopf zerbricht, dessen Gedanken keine Ruhe finden. Selbst in Gesprächen
springen seine Gedanken in einen Tagtraum hinein. Wird ein besonderes
Gesprächsthema angesprochen, so gehen Micheles Gedanken sofort in die
Vergangenheit und berichten wie es damals war oder was er heute dafür hält. An
dieser Stelle wird vom Leser ein schnelles Umschalten verlangt. Chiara Marchelli
gestaltet dies sehr komplex und meisterhaft.
Ganz anders als Michele reagiert seine Frau Larissa. Sie geht eher pragmatisch
mit der Situation um und kann nicht alle Entscheidung ihres Mannes
gutheißen.
Chiara Marchelli versteht es meisterlich, die Spannung aufzubauen und zu halten.
Als Leser muss man damit rechnen, dass neue Fakten auf den Tisch kommen und
alles bis dahin Geglaubte über den Haufen geworfen werden muss.
Lediglich bei all den Abschweifungen in die Mathematik und Spieletheorie
(Michele ist Professor auf diesem Gebiet) hätte sich Chiara Marchelli etwas
zurückhalten sollen. Die Vergleiche, die Michele hierraus zum Verhältnis und
Leben seines Sohnes zieht, sind zu konfus und für einen Nicht-Mathematiker
schwer nachvollziehbar, zu theoretisch.
Fazit
Alles in allem bleibt »Die blauen Nächte« von Chiara Marchelli ein
empfehlenswerter Roman, der sich auf ganz besondere Weise der Trauerbewältigung
annimmt, ohne depressiv zu machen.
Vorgeschlagen von Detlef Knut
[Profil]
veröffentlicht am 11. Mai 2021 2021-05-11 14:50:16