Jugendlicher sein im Afghanistan der Gegenwart
Aus der Ferne weiß man nicht allzugleich aus dem Inneren von Land und Kultur.
Taliban. Krieg. Russland über Jahre im Land, amerikanische Truppen nach 2001,
Terror, Zerstörung von Kunstwerken der Menschheit, NATO Einsatz, all diese
Stichworte ergeben ein Bild eines zerrissenen, armen, gebeutelten Landes, das
irgendwie "rückständig" zu sein scheint.
Das aber Menschen unter erschwerten Umständen auch "ganz normal"
ihren Alltag leben, dass eine lange Kulturgeschichte, auch Möglichkeiten der
wirtschaftlichen Entwicklung in Afghanistan möglich wären, das fällt in der
öffentlichen Berichterstattung ein stückweise unter den Tisch. Afghanistan im
Inneren besteht nicht nur, aber eben auch, aus Warlords und dem ständigen
Ringen um die eigene Macht und den eigenen Vorteil.
Das ist die Atmosphäre, in der Marwand, 12 Jahre alt, gewitzt, mit Sehnsucht
ausgestattet, seinen Weg sucht und mit seinen Freunden zur Jagd aufbricht. Und
das ist nicht unbedingt ein Jagdausflug unter Hobby-Jägern, sondern notwendig,
einerseits, aber auch ein Abenteuer guter Freunde, andererseits. Denn was die
Menschen in Afghanistan als eine der Grundlagen des Lebens betrachten und leben
ist die Gemeinschaft. Ohne einander zu helfen und beizustehen würde keiner für
sich alleine in all den Einschränkungen und Gefahren gut durchkommen.
"Agha hatte sein eigenes Anwesen…..Der Großteil seiner Familie war
jedoch im Krieg geflohen oder umgekommen und sein Anwesen war voller ferner
Verwandter, denen er nicht wirklich traute".
Das ist eben die andere Seite der Medaille. Wo man einander braucht, und den
Alltag in unsicheren Zeiten zu bestehen, da muss man auch aufpassen, dass man
nicht "über den Tisch gezogen" wird oder dem Feind angedient für
mögliche Vorteile anderer. Und dennoch setzt sich die kindliche Lust am Leben,
am Abenteuer, die emotionalen Aufregungen in Marwands und seiner Freunde leben
durch. Intensiv und atemlos folgt man den Beschreibungen der Jagd, dem Erleben
der Jungen.
"Ich versteckte mich noch zwischen den Büschen und Feldern und versuchte
verzweifelt die Scheiße aus meinen Kleidern zu reiben".
Gelegenheit auch, und das sind teils die eigentlichen Einblicke in die Seele des
Landes, sich Geschichten zu erzählen. Die weniger poetisch als in "1001
Nacht" des Weges daherkommen, aber sehr praktisch und griffig das Befinden
der Menschen auf den Punkt bringen. "Die Geschichte der Geschichte von
Marena und dem Scheisse fressenden Dschinn" ist so eine Geschichte in der
Geschichte, mittels derer Kochai den Leser vertraut macht mit dem Leben und den
Sehnsüchten in Afghanistan. Oder die "Geschichte vom alten Hund", die
Marwand mit Schmerz und einem fehlenden Körperteil zurückgelassen hat.
99 Nächte sind es, die auf die Tage der Jagd folgen, in denen Geschichten aus
dem Leben und aus Wunschträumen und der Realität gefärbt sich finden.
Inmitten einer Vielzahl von Figuren (bei denen man durchaus leicht, gerade zu
Anfang, den Überblick verlieren kann) und Orten und Ereignissen, die nicht
immer faszinieren, aber im Gesamten doch ein stimmiges Bild vom Aufwachsen in
Afghanistan erzeugen. Inmitten von Krieg, Bomben, Misstrauen und drohender
Gewalt bewahren sich de Jugendlichen ihre Fantasie, haben ganz handfeste Träume
("Erzähl mir eine Geschichte aus Amerika") und lernen von früh an,
dass man als Mensch immer "Teil der anderen" ist. Im Guten wie im
Schlechten.
Dass Kochai gerade nach dem temporeichen Beginn und vor dem anregenden Finale
nicht immer Spannung erzeugt in den vielen Geschichten, die einander erzählt
werden und das ganze auch hier und da dazu drängt, einige Seiten einfach zu
überschlagen, das erschwert die Lektüre aber doch auch. Zu ausschweifend und
zu sehr verliebt in das ein oder andere Motiv einer Geschichte lässt die
Spannung teils zu sehr abflauen.
Fazit
Dennoch. Im Gesamten, eine empfehlenswerte Lektüre, weil Kochai immer wieder
die Augen öffnet und wichtige Momente Afghanistans nachvollziehbar und packend
darstellt.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 16. März 2021 2021-03-16 11:59:19