Routiniert verfasst und flüssig zu lesen
Zunächst trügt der Titel ein stückweit schon. Denn zwar bildet jener
"Wilde", der damals, vor Jahrzehnten, alleine und wohl ausgesetzt im
Wald gefunden wurde, eine der wesentlichen Figuren dieses Thrillers, aber um
dieses bis dato unaufgeklärte Auffinden im Wald geht es nicht. Das bildet nur
hier und da eine Art roten Faden, der auf zukünftige Bände um Wilde
hinzuweisen scheint. Im vorliegenden Thriller geht es eher um zwei Jugendliche,
einen Jungen und ein Mädchen, sehr verschieden in der Person, sehr verschieden
im Hintergrund der Familien, einander auch nicht unbedingt zugetan, außer man
betrachtet systematisches Mobbing als eine Form der "Zuwendung".
Doch eines haben beide später gemeinsam. Beide sind für eine Weile
verschwunden. Ist das eine Art Challenge, wie sie Naomi bereits früher
durchgeführt hat? Ist es ein Durchbrennen eines heimlichen Liebenspaares?
Gehören die beiden Fälle überhaupt zusammen? Welche Rolle spielen bei Beiden
Vater und Mutter (in ganz verschiedener Hinsicht). All diesen Fragen geht Coben
nach, dies aber hier und da ein wenig ungeordnet, als würde die reine Menge der
Themen, die Coben verarbeitet, den Überblick ein stückweit schrumpfen
lassen.
Das Mobbing, das zunächst im Mittelpunkt der Fälle steht, spielt am Ende
nurmehr wenig Rolle im Verlauf der Ereignisse, Klimaprobleme, mächtige Männer,
die die Welt "von oben" zu ändern gedenken, die politische
Hufeisentheorie, die schwierige Rolle der social media, die moderne Art eine
"Teilen und Herrschen", die angestrebt wird, die Macht der Talk-Shows,
die Konturierung der Gesellschaften in erbitterte gegensätzliche Lager, all das
spielt zu Zeiten je eine Rolle im Thriller. Nähert man sich dabei dem Kern der
Ereignisse an (einem konkreten Videomitschnitt), dann ist auch das Ende des
Thrillers keine sonderlich große Überraschung mehr.
Fazit
Was Coben dabei aber gut und unterhaltsam versteht, ist ein Blick in den
Hintergrund der politischen Strategien (auf nur wenigen Seiten erläutert Coben
klar und für jeden Leser verständlich, wie das in der Gegenwart mit der
Einflussnahme, mit Bots und mit Medienstrategien funktioniert. Dass sein
"Rusty Eggert" durchaus an einen realen amerikanischen Präsidenten
erinnert, passt hier tatsächlich bestens ins Bild.
Auch Wilde als Figur ist interessant gezeichnet, der Hintergrund seines
Schicksals bleibt über den Thriller hinweg offen und hält den Leser neugierig.
So dass, im Gesamten, ein gut lesbarer, zwar thematisch etwas überfrachteter,
Thriller vorliegt, der solide unterhält und einige Rätsel zumindest über den
größten Teil der Lektüre hinweg dem Leser vor Augen führt.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 25. September 2020 2020-09-25 13:56:16