Ingrid Mittenzwei hat diese Biographie erstmals 1979 in der DDR veröffentlicht.
1982 erschien sie in erweiterter Ausgabe als Taschenbuch.
Diese Lebensbeschreibung war zu ihrer Zeit eine Sensation. Die DDR entdeckte
Persönlichkeiten in der Geschichte und wich von ihrem bisherigen Standpunkt ab,
die Geschichte bestimme sich aus Klassenkampf und sei daher entpersonalisiert
darzustellen. Große weitere Biographien, etwa Ernst Engelbrechts
"Bismarck"-Biographie, erschien erst unter Gorbatschow.
Wie heikel die Erstveröffentlichung gewesen ist, wird daran deutlich, dass in
der Taschenbuch-Ausgabe des Kölner Pahl-Rugenstein-Verlages, die im Oktober
1982 erschien, ein Zitat von Leonid Breschnjew erscheint, der drei Wochen nach
Erscheinen des Buches starb. Widerstände gegen diese Biographie muss es also an
höchster Stelle in der damaligen DDR-Führung gegeben haben; doch wenn
Breschnjew zitiert wird....
Diese Biographie nähert sich Friedrich II., dem das Prädikat "Der
Große" systematisch aberkannt wird, auf erfrischend unbefangene Art und
Weise. Die Taschenbuchausgabe wurde erweitert. Verstärkt hat Ingrid Mittenzwei
die Passagen, die sich mit der geistigen Entwicklung Friedrichs II. befassten,
dagegen wurde auf viel "Privates" verzichtet.
War Friedrich "groß"? Ein marxistischer Dogmatiker würde diese Frage
verneinen. Nicht so Ingrid Mittenzwei, die den Begriff der Größe
folgendermaßen definiert: "Größe ist ein relativer Begriff; sie ist nur
meßbar im Vergleich. Überhaupt sollte hier Friedrich II. nicht Größe
abgesprochen werden. Ob der Preußenkönig aber eine Persönlichkeit war, die
mit Recht groß genannt werden kann, weil sie -mit außerordentlichen
Fähigkeiten ausgestattet - das Rad der Weltgeschichte ein Stückchen
weitergedreht hat, darüber kann der Historiker nicht urteilen...Ob Friedrich
"der Große" oder Friedrich II., so viel jedenfalls muß gesagt
werden, daß die Politik des Preußenkönigs - wenn auch unbeabsichtigt - weit
über die eigene Zeit hinaus wirkte." (S. 82/83 der Ausgabe des
Pahl-Rugenstein-Verlages von 1982).
Dabei beurteilt Frau Mittenzwei, die 1986 auch Briefe Friedrichs herausgegeben
hat, die Politik des Preußenkönigs sehr kritisch. Die schlesischen Kriege und
die Annexion Sachsens zeige ihn als Aggressor, von einer "Doppelnatur"
des Königs könne nicht die Rede sein - hier stellt sie sich in Gegensatz zur
bekannten Friedrich-Biographie von Wolfgang Venohr. Innen- und Justizpolitik
werden als im Vergleich zu anderen Ländern zwar fortschrittlich angesehen,
seien aber inkonsequent. So wurde die vielgerühmte 1740 mit Regierungsantritt
eingeführte Pressefreiheit bereits 1742 wieder abgeschafft, In der Justizreform
habe Friedrich zwar die Tortur abgeschafft und den Anwendungsbereich der
Todesstrafe eingeschränkt, aber andererseits habe Friedrich II. mit seinen
Ansichten nicht in allen Justizstellen durchgedrungen. Auch der Entwurf des
Allgemeinen Landrechts, Mittelpunkt der zweiten Justizreform, sei ein
widersprüchliches Dokument gewesen, die einerseits auf dem Naturrecht basierten
und Vorstellungen der Aufklärung in sich bargen, andererseits jedoch nur zu
genau die in Preußen herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse
widerspiegelten.
Fazit: Nie habe Friedrich II. unter dem Einfluß der Aufklärung das Wesen der
feudalen Klassenherrschaft angetastet. Das Preußen Friedrichs II., der am
Vorabend revolutionärer Umwälzungen 1786 starb, sei ein hoffnungslos
überaltetes Staatswesen gewesen. Friedrichs Verhältnis zur Aufklärung sei
daher auch zwiespältig gewesen: zwar habe sich Friedrich als "erster
Diener des Staates" verstanden, was in der Tat für einen absolutistischen
Herrscher neue Töne gewesen seien, die Friedrich II. auch ernst gemeint habe
(S. 36). "Um diese These jedoch richtig zu verstehen, muß man jedoch
berücksichtigen, daß sie von einem unmündigen Volk ausging, das über sein
Schicksal nicht selbst entscheiden konnte. Wie den Untertanen zu
"dienen" war, wußte allein der selbst regierende Fürst. Sein Volk
"glücklich" zu machen, darin gipfelte die ganz in diesem Sinne zu
verstehende Forderung des jungen Fürsten. "Ein zufriedenes Volk wird
niemals an Aufruhr denken, ein glückliches Volks bangt vor dem Verlust seines
Herrschers."...Aus Friedrichs Worten sprach - wenn auch unbewußt - ein
Gefühl schwindender Sicherheit, noch ehe der Amerikanische
Unabhängigkeitskrieg und die Französische Revolution den Monarchen Europas die
Gefahr ihres eigenen Untergangs vor Augen führten." (S. 36).
Eine sehr interessante Sicht, wie ich finde. Gut gefallen hat mir, dass die
Arbeit den Alltag der Bevölkerung in Preußen und ihr Elend plastisch
beleuchtet. Auch die Auswirkungen der Kriege auf die Bevölkerung, also die
sozialgeschichtliche Sicht der Dinge, wird ausreichend geschildert. Die
aggressive Außenpolitik Friedrichs II. wird verurteilt, der seinem
Expansionsdrang nie Zügel angelegt habe (S. 54).
Mir hat gut gefallen, dass die private Geschichte Friedrichs, die wir aus
zahlreichen anderen Biographien (Schieder, Venohr, Krockow) gut kennen,
zurückgedrängt wird und das politische Wirken des Königs in den Mittelpunkt
dieser wissenschaftlichen und nicht leicht zu lesenden Biographie gestellt wird.
Dennoch ist sie - und dies hat mich überrascht - dem Preußenkönig weniger
kritisch eingestellt - die obigen Ausführungen über historische Größe
dürften dies zeigen - als etwa Augsteins 1968 geschriebene Friedrich-Biographie
"Preußens Friedrich und die Deutschen". Vielleicht war es genau
dieser Grund, dass diese von Frau Mittenzwei verfasste Biographie zum Zeitpunkt
ihres Erscheinens 1979 eine Sensation darstellte und bis heute als Standardwerk
der Forschung gilt, die auch im Westen gelobt worden ist und seitdem in jeder
weiteren Friedrich-Biographie zitiert wird. Meines Erachtens zu recht.
Fazit
Man erfährt auf 253 Seiten alles Wesentliche über Friedrich und hat nicht das
Gefühl, dass man wichtige Aspekte vermissen würde. Eine solide Biographie und
für mich bis heute die informativste politische Lebensbeschreibung Friedrichs
II.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 10. Juni 2004 2004-06-10 13:40:45