In Jena trifft sich im Keller der Jungen Gemeinde Mitte der 80er eine Punkband
– Sohle, Biber (Frank), Melchior und die Pfarrerstochter Julia. Im
sozialistischen Staat werden Punks offiziell als destruktive Elemente
bezeichnet, ihre Lebensweise erklärt man sich mit dem Einfluss aus dem Westen.
Die Polizei muss mit aller Härte verhindern, dass ein paar Individualisten mit
gefärbten Haaren in anderen Jugendlichen den Wunsch wecken, die DDR zu
verlassen.
Melchior Nikoleit wird tot in einer Hinterhof-Baracke gefunden, die er gemietet
hatte. Als Otto Castorps Abteilung im Fall Melchior zu ermitteln beginnt,
vertritt Otto ausgleichend die Meinung, dass sich das Interesse am Punk schon
auswachsen werde, wenn Jugendliche erst einmal einen Arbeitsplatz hätten. Für
seine eigenen Kinder hofft er, dass der Trend möglichst an ihnen vorbei gehen
wird. Sein Kollege wirft ihm vor, er habe für Abweichungen der
"Staatsfeinde" von der Einheitslinie zu viel Verständnis. Melchior
Nikoleit ist Sohn eines Antiquitätenhändlers mit Westkontakten, der - stets im
Blick der Stasi - offiziell in andere Länder reisen und Devisengeschäfte
abwickeln darf. Der alte Nikoleit nutzt seine legalen Reisen für
Nebengeschäfte mit Westgeld, was der Staatssicherheit nicht verborgen bleiben
kann. Dass ausgerechnet der unangepasste Sohn eines dubiosen Händlers in einer
Hinterhof-Baracke getötet wird, entwickelt sich für Otto und seine Kollegen
als Tanz auf dem Vulkan. Da für die Junge Gemeinde offiziell das MfS zuständig
ist, müssen die Kripobeamten jederzeit damit rechnen, dass ihnen der Fall
entzogen wird. Sie erhalten Einblick in Geschäfte der Stasi, die die Behörde
lieber verborgen hätte. Szenenwechsel illustrieren eine offiziell
sozialistische Gesellschaft, in der wenige Privilegierte ein leichteres Leben
hatten als normale Werktätige. Die Jugendlichen haben bei ihren Abenteuern in
Hinterhöfen und alten Gemäuern offenbar die Wege von Leuten gestört, die
Handel mit raren Waren aus der Bundesrepublik treiben. Und dann sind da noch
alte Fotos, die aus der Zeit vor 1945 stammen und die Beteiligten heute den Kopf
kosten könnten.
Privat lässt Ottos Schichtdienst sich immer weniger mit Ehe und Familie
vereinbaren; ein Thema, das im ersten Band ausführlich zur Sprache kam. Tochter
Kathrin möchte auf ein Sportgymnasium wechseln; Otto ahnt jedoch nach den
Andeutungen eines Kollegen, dass die Leistung von Schwimmerinnen dort mit
Hormonen getrimmt wird. Der Tod seines Vaters schließlich bringt das schwierige
Verhältnis zu Ottos Bruder wieder auf den Tisch. Der Einblick ins Castorpsche
Familienleben gelingt eindringlich, den ersten Band muss man dafür nicht
gelesen haben.
Band 1
Morduntersuchungskommission
Fazit
Max Annas legt mit "Der Fall Melchior Nikoleit" den zweiten Band
seiner DDR-Krimi-Reihe vor. Aus zahlreichen Figuren und Szenenwechseln entsteht
ein komplexer Plot mit überzeugend getroffenen Details aus dem DDR-Alltag. Wer
hätte dort Szenen wie die mit dem T-Stück nicht selbst erlebt … Der Tod
eines 18-jährigen Punk-Musikers rührt illegale Geschäfte von dessen Vater
auf, streift die Stasi-Bespitzelung der Punk-Szene und führt zu 40 Jahre alten
Ereignissen, die einflussreiche DDR-Funktionäre in den 80ern die Karriere
kosten konnte.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 24. Juli 2020 2020-07-24 08:18:13