Ma Jinas Vorwort markiert bereits das Ende der Hoffnung. Chinas Historiker
werden weiter die "Erniedrigung durch die Kolonialmächte" beklagen
und nicht Maos Misswirtschaft mit Millionen von Toten aufarbeiten, um aus der
Geschichte zu lernen. Sich nicht erinnern, keine Fragen stellen und mit der
Forderung nach Wohlstand und Konsumgütern gegenüber der Staatsführung die
Rolle eines Kinds einnehmen – Ma Jian erstickt bereits den Ansatz einer
Hoffnung auf Kritikfähigkeit seines Landes.
Sein Protagonist Ma Daode, Direktor des Traum-von-China-Amts, soll die
persönlichen Erinnerungen der Bürger ersetzen durch ein kollektives
Gedächtnis in Form eines implantierten Traum-von-China-Chips. Ma wird der erste
Freiwillige für das Neuroimplantat sein. Der 60-Jährige wurde als Jugendlicher
wie seine gesamte Generation in der Mao-Zeit zur Umerziehung aufs Land
geschickt. Als Mitglied der Roten Brigaden verbreitete er in jugendlicher
Naivität selbst den Schrecken, unter dem seine als bourgeois etikettierten
Eltern zu leiden hatten. Eine falsche Klassenzugehörigkeit der Eltern brachte
einen damals Gefahr. Bis heute ist Ma die bourgeoise Herkunft seiner Mutter
deshalb peinlich. Seine für ihre Zeit typische Biografie teilt Ma mit Millionen
von Mitbürgern.
Yaobang, das Dorf, in das Ma und sein Vater damals verbannt waren, soll komplett
abgerissen werden, um einem Industriepark Platz zu schaffen. Die Bürger sind
mit der Entschädigung unzufrieden und wollen den Abriss verhindern - bis zum
bitteren Ende. Direktor Ma soll die Sache richten, er selbst dient als
Bauernopfer, damit die Räumung friedlich verläuft und die Regierung nicht das
Gesicht verliert. Doch für Ma bringt Yaobang seine persönlichen Schatten an
der Wand zurück - das Schicksal seines Vaters und die Erinnerung an die
vergessenen Toten, die damals anonym in einem Wäldchen verscharrt wurden.
Fazit
Als Verbindung von Fakten und Fiktion scheuen Ma Jians Romane die Darstellung
von Gewalt und Willkür nicht. Etwas weniger drastisch und deprimierend könnten
sie wirkungsvoller sein. "Traum von China" demonstriert in Form einer
alptraumartigen Dystopie, wie stark die Mao-Zeit bis heute die chinesische
Gesellschaft prägt, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen und die Prägung
ihrer Eltern der jüngeren Generation längst nicht mehr bewusst ist. Um die
Anspielungen auf die Mao-Zeit in allen Details zu verstehen, sind Kenntnisse
über Chinas Geschichte sinnvoll.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 26. Oktober 2019 2019-10-26 15:24:12