Die Buckelwale tauchten zu beiden Seiten des Bootes auf und musterten den Mann
im Boot. Leon Anawak kam sich vor wie eine Laborratte. Bisher hatten Touristen
und Walforscher die imponierenden Säugetiere beobachtet, nun war es umgekehrt.
Er sprach beruhigend mit den beiden - doch sie tauchten beinahe ungnädig ab,
als er seine Kamera hervorzog. Anawak ist promovierter Walforscher und fährt
vor der Küste von Tofino auf Vancouver Island mit Touristen zum
Whalewatching.
Mit Vancouver Island hat Frank Schätzing eine Perle des Öko-Tourismus zu einem
der Schauplätze seines 1000-Seiten-Thrillers gewählt.
Am Clayoquot-Sound herrscht ein heikles Verhältnis zwischen Forstindustrie,
Arbeit suchenden Bürgern und Naturschützern. Nur Holzindustrie, Fischerei und
Tourismus bieten Arbeitsplätze, doch gefährden all drei die Umwelt. Der
Abholzung folgt Erosion, mit dem Oberflächenwasser wird der Boden in die
Flüsse gespült, werden die Laichgründe der Lachse zerstört und das
Trinkwasser der Bewohner verdorben. Ohne die jährliche Wanderung der Lachse
bleiben vorbeiziehende Orcas aus - Arbeitsplätze im Tourismus und beim
Whalewatching sind in Gefahr. Aus dieser realen Situation entwickelt Schätzing
ein akribisch bei Wissenschaftlern und Umweltschützern recherchiertes Szenario:
Das Verhalten der Meeresbewohner hat sich beunruhigend verändert. Boote
verschwinden oder werden angegriffen. Giftige Arten wie Steinfisch und
Petermännchen scheinen aggressiv geworden zu sein, es kommt zu zahlreichen
Todesfällen. Bei Obduktionen an gestrandeten, verendeten Walen werden Anomalien
im Gehirn gefunden.
Die geplante Förderung von Methangas aus dem Meer sollte eigentlich die
Energieprobleme verwöhnter Erdbewohner lösen. Doch neue wehrhafte Arten, die
sich in rasantem Tempo vermehren, bedrohen Öhlbohrinseln und die
Offshore-Industrie vor der norwegischen Küste. An den Unfallschwerpunkten der
Weltmeere, der Strasse von Malakka, der Meerenge von Gibraltar und dem
Ärmelkanal, eskalieren derweil Zusammenstöße zwischen Tieren und Schiffen.
Einzelne Experten und kleine Teams vermuten, dass menschliche Eingriffe in die
Natur das "apokalyptische Gequabbel" verschuldet haben. Unter
amerikanischer Leitung wird schließlich die Elite der Meeresforschung
zusammengerufen, um streng abgeschirmt einen Gegenschlag zu entwickeln. Anawak,
eine amerikanische Expertin für außerirdische Intelligenz, ein norwegischer
Öl-Experte u. a. Spezialisten sollen die Welt vor Tsunamis und Ungeheuern
schützen. Doch die Ereignisse im Meer und an den Küsten sind der
Sondereinsatztruppe immer einen Schritt voraus. Die menschliche Rasse erscheint
nur noch als eine Art Pilzbefall der Erdoberfläche.
Dicke, spannende Bücher lese ich am liebsten an einem verregneten Wochenende
zügig aus. Erst nach 800 Seiten "Der Schwarm" brauchte ich eine kurze
Pause. Schätzings Erfolgsroman entzieht sich einer Einordnung in Kategorien,
das Buch ist weit mehr als ein Öko-Thriller und angesichts der amerikanischen
Rolle im eltgeschehen erschreckend aktuell. Die Charaktere der unterschiedlichen
Wissenschaftler sind faszinierend dargestellt, ihre privaten und beruflichen
Konflikte rahmen geschickt die Vorgänge unter Wasser ein. Besonders gefallen
hat mir die trocken-spöttische Art des Norwegers Johanson, sie erleichtert die
Konfrontation mit den existenziellen Problemen.Die Schauplätze des
apokalyptischen Szenarios sind bis ins letzte Detail genau recherchiert. Einige
der von Schätzing befragten Wissenschaftler kann man im Buch als handelnde
Personen antreffen.
Der Schwarm
Fazit
Mein Buch des Jahres 2004. Unbedingt lesen - und Wale beobachten, solange es
noch geht.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 21. Mai 2004 2004-05-21 10:59:47