Leonora war 15 Jahre alt, als sie über Nacht, zur Überraschung aller, die sie
kannten, nach Syrien verschwand und sich dem IS anschloss. Für alle ein Schock
- niemand hatte es geahnt oder vorhergesehen. Die Radikalisierung geschah in
einer Art Doppelleben. Der Vater Leonoras, Maik Messing, präsentiert die
Geschichte von Leonora gemeinsam mit den beiden Journalisten Volkmar Kabisch und
Georg Heil. Beide haben aufgrund ihrer Tätigkeit fundierte Kenntnisse und auch
eine Vielzahl von Kontakten in die arabische Welt.
Gemeinsam schildern sie, wie eine völlig unauffällige junge Deutsche, die im
Vorland des Harz in einem kleinen Dorf behütet aufwächst. Berührungspunkte
zum Islam bestehen - nach aussen erkennbar - lediglich durch eine Schulfreundin;
sie ist zwar bekennende Muslima, lebt aber nicht streng religiös. Auch die
nächste Moschee ist weit von Breitenbach, dem kleinen Dorf, in dem Leonora
aufwächst, entfernt. Somit geschah etwas Unerwartetes und Unfassbares, als die
Nachricht per WhatsApp an ihren Vater gelangte, dass sie in Syrien angekommen
ist und einen IS-Kämpfer deutscher Herkunft als Drittfrau geheiratet hat.
Nahid, so der Name des Deutschen Martin Lemke, in einer der angesehenen Position
des IS-Geheimdienstes befindlich, kann seinen Ehefrauen ein verhältnismäßig
gutes Leben bieten. Dennoch: nach kurzer Zeit gibt Leonora zu erkennen, dass sie
es in Syrien nicht mehr aushält.
So wird ein Fluchtversuch gestartet, der allerdings fehlschlägt. Danach
herrscht langes Schweigen und die Unsicherheit, was passiert ist. Als eine
Todesnachricht an Leonoras Vater gelangt, bricht die Welt zusammen. Später
jedoch stellt sich diese Todesnachricht als falsch heraus und scheinbar wird ein
weiterer Fluchtversuch arrangiert, von Leonora selbst inszeniert. Dieser
scheinbare Versuch endet in einer Erpressung der Familie in Deutschland, auf die
sie sich, trotz aller Gewissensbisse, nicht einlässt. Gut so, wie sich
herausstellt, denn Leonora lebt weiter im Kalifat. Der IS verliert indes immer
weiter an Einfluss und Macht, bis lediglich der Teil eines kleinen Dorfes vom
einstmaligen Kalifat verblieb. Zwischenzeitlich hat sich die familiäre
Situation Leonoras verändert. Die Beziehung zum anfangs ungeliebten Ehemann
Nahid vertieft sich und Leonora bringt zwei kleine Mädchen zur Welt.
Leonora und ihrem Mann gelingt die Flucht in ein Flüchtlingslager. Sie sucht
nach wie vor Kontakt zu ihrem Vater und zur getrennt lebenden Mutter. Aber sie
ist inzwischen eine Andere geworden. So feiert die Familie im Harz-Vorland
gemeinsam mit ihren Freunden die Befreiung der Tochter. Aber die Ungewissheit
bleibt nach wie vor - was wird aus Leonora?
Fazit
Den Autoren gelingt es ein Buch zu verfassen, das seinen Leser mit
eindrucksvollen Schilderungen in seinen Bann zu ziehen vermag. Die wechselvolle
Geschichte von Leonora Messing und der Kampf beider Eltern (obgleich getrennt
lebend) um die Rückkehr ihrer Tochter fesselt den Leser. Zugleich gelingt es
eine Vielzahl kritischer Fragen aufzuwerfen. Es dreht sich um die verdeckte
Radikalisierung Jugendlicher und die Frage nach dem "warum?". Eine
berechtigte Frage, die letztendlich dennoch offenbleibt (und bleiben muss),
dennoch den interessierten Leser immer wieder beschäftigen dürfte: was läuft
falsch in unserer Gesellschaft, was bringt freiheitsliebende junge Menschen
dazu, einen Schritt zu tun, der sie in eine strikte, radikal religiöse Struktur
katapultiert?
Zugleich erfährt der Leser Vieles über die Strukturen des IS und die
komplizierten Machtverhältnisse der arabischen Welt im Mittleren Osten. Offen
bleibt, wie es schlußendlich weitergeht: was geschieht mit Leonora nach ihrer
Flucht in die vermeintliche Sicherheit aus den Fängen des IS? Wie werden sich
die Behörden einer IS-Rückkehrerin gegenüber verhalten, wie die Nachbarn in
der kleinen Gemeinde?
Alles in allem ein interessantes, spannendes und gut lesendes Buch. Die
Erzählung der bisherigen Lebensgeschichte einer jungen Frau und ihrer Familie.
Persönlich und mitfühlend verfasst, ohne den großen wissenschaftlichen
Diskurs im Hintergrund. Das würde diesem Buch auch den Reiz nehmen. So muss der
an Hintergründen interessierte Leser zu weiterer Literatur greifen; die gibt es
aber in großer Auswahl.
Vorgeschlagen von Dietmar Langusch
[Profil]
veröffentlicht am 06. Oktober 2019 2019-10-06 12:42:35