Ein großformatiges, illustriertes Kinderbuch lässt zunächst an Kinder im
Bilderbuchalter als Zielgruppe denken. Stefan Mosters (Autor von
Alleingang) und Nadia Faichneys (Illustratorin von
Papas Seele hat Schnupfen) Bilderbuch entstand jedoch für Kinder
ab 10 Jahre, mit denen das Buch im Rahmen einer Psychotherapie bearbeitet wird.
Ein Aufdruck an der Oberkante des Buchcovers weist darauf ausdrücklich hin.
Das Titelbild zeigt eine blonde, sehr ernst blickende Person, die eine große
schwarze Wolke nach oben drückt. Sie kommt einer vertrauensvoll blickenden
Amsel dabei sehr nahe und kann sie direkt ansehen. Die Geschichte beginnt in der
Weitwinkel-Ansicht einer riesigen verschneiten Fläche, in der weit hinten ein
Bauernhaus mit Scheune zu sehen ist, wie es in Büchern von Astrid Lindgren
beschrieben sein könnte. Als Rahmenhandlung erzählt das blonde Kind in der
Ichform von einem schwarzen Schatten, der eine Amsel zu greifen versucht. Die
Amsel duckt sich und wirkt wie gelähmt. Die wie mit Kohlenstaub geschwärzten
Hände wirken durch ihre bildfüllende Größe bedrohlich. Die winzige
Kinderfigur dagegen kann der Amsel von ihrem Fenster aus nicht helfen.
In die Rahmenhandlung eingefügt sind die traumatischen Erlebnisse des
erzählenden Kindes. Der Gesichtsausdruck der Figur wirkt bedrückt, der Kopf
sitzt auf einem sehr schlanken, kindlichen Körper mit sehr kleinen Händen. In
späteren Szenen muss das Kind von weit unten zum Erwachsenen aufblicken. Am
Bildrand ist ein kleinerer schwarzer Schatten zu sehen, der das Bild zu
verschmutzen scheint. Aus der Sicht des nicht betroffenen Erwachsenen spricht
mich die bildliche Darstellung der androgyn wirkenden Kinderfigur direkt an, die
keine Geschlechtsrolle vorgibt.
Das Kind ringt um treffende Worte, die den Täter und die Tat beschreiben. Der
Täter hat eine gute, sozial anerkannte Beziehung zu dem ihm anvertrauten Kind
und zeigt eine fürsorgliche Seite, in der es einen falschen, verbotenen Anteil
gibt. Doch für das Fremde, schwer Einschätzbare in dieser Person fehlen dem
Kind die Worte. Es erzählt, wie es erstarrt, sich nicht wehren und nicht um
Hilfe rufen kann. Ein riesiges schwarzes Netz scheint sich erstickend über das
gesamte Leben des Kindes zu legen. Die Tat scheint auch bestimmte Räume
vergiftet zu haben, so dass die junge Icherzählerin Bilder dieser befleckten
Räume zerreißen und bekritzeln muss. Die bedrohte Amsel kann am Ende davon
fliegen, für sie gibt es einen Ausweg aus der gefährlichen Situation und damit
ein versöhnliches Ende der Geschichte.
Im Nachwort erklärt ein Psychotherapeut in leicht verständlicher Sprache, was
ein Trauma ist und wie es Sprachlosigkeit verursachen kann, die eine Therapie
zunächst überwinden muss.
"Die glückliche Amsel" spricht betroffene Kinder auf mehreren Ebenen
an und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte. Der einfühlsame Text aus der
Ichperspektive ermächtigt zu Worten, die einem betroffenen Kind bisher gefehlt
haben könnten. Die einzelnen Bildseiten liefern zusätzlich Gesprächsanreize
für bisher unausgesprochene Empfindungen: die Hilflosigkeit, verwirrende
körperlichen Beschwerden und das Gefühl, den eigenen Körper ablehnen zu
müssen. Kinder können zu einzelnen Bildern frei assoziieren, sich in die
Amsel oder in das betroffene Kind einfühlen. Da auch Täterstrategien einer
vertrauten Person mit einer dunklen Seite deutlich werden, kann ich mir das Buch
außer für den Einsatz in der Therapie auch für Präventionsarbeit mit Eltern
vorstellen, die zur Rolle nahestehender Täter oft noch ein ambivalentes
Verhältnis haben. Das Rezensionsexemplar ist in der Therapie von Kindern bis 12
Jahre mit Gewalterfahrungen im Einsatz.