Das Buchcover zeigt die abgegriffene Fallakte eines Mordfalls in der Deutschen
Demokratischen Republik, zusammengehalten von einem Gummiband. Auch wenn heute
gern behauptet wird, in der ehemaligen DDR habe es weniger Kriminalität gegeben
als im Westen, gab es dort Kapitalverbrechen. Otto Castorp von der
Morduntersuchungskommission in Gera ermittelt 1983 im Fall eines Toten, der -
unvorstellbar zugerichtet - an der Bahnlinie Jena-Saalfeld gefunden wird. Der
Tote ist ein zunächst unbekannter Schwarzer. Wenn ausländische
Kontingent-Arbeiter von der übrigen Bevölkerung abgeschottet in Wohnheimen
leben, sollte nichts leichter sein, als dort nach einem Vermissten zu fragen.
Castorp und seine Kollegen haben jedoch Anweisung, Aufsehen zu vermeiden, was
ihre Ermittlungen unnötig behindert. Der Tote wird schließlich vom Pförtner
seines Wohnheims als Kontraktarbeiter aus Mosambik identifiziert. Teo Macamo ist
alles andere als ein Unbekannter, er hatte eine deutsche Freundin. Während Otto
noch grübelt, wie an einer Bahnlinie ein solch brutales Verbrechen ohne
Augenzeugen geschehen kann, wird über seinen Kopf hinweg auf Anweisung der
Staatssicherheit das Verfahren eingestellt. Otto kann nicht glauben, dass sein
Staat wagt, auf internationaler Ebene einen Mord zu vertuschen.
Mit einer außerehelichen Beziehung leistet sich der gerade 30-jährige
Ermittler ein kompliziertes Privatleben, das durch Kinderbetreuung und die
unregelmäßigen Arbeitszeiten beider Partner ohnehin kompliziert genug ist.
Otto spielt bewusst mit dem Feuer in einer Gesellschaft, in der die Nachbarn
alles sehen, alles weitergeben und in der von einem Polizisten Korrektheit im
Privatleben erwartet wird. "Die Familie ist die kleinste Zelle der
Gesellschaft." Sollte Ottos Affäre auffallen, kostet ihn das mit dem
beruflichen Status zugleich seine Privilegien. Er und seine Angehörigen werden
auf Wartelisten für Ferienplätze oder einen PKW vom bevorzugten vorderen
Platz für Polizisten nach hinten verschwinden und von Quellen abgeschnitten
sein, die die Familie per Tauschhandel mit knappen Konsumgütern versorgt. In
dieser Ausgangssituation entscheidet Otto sich dafür, allein inoffiziell im
Fall Macamo weiter zu ermitteln. Otto leistet grundsolide Ermittlungsarbeit,
stets auf dem Präsentierteller und in Gefahr selbst denunziert zu werden. Das
vertraute Weltbild seines Staates, das ihm privat und beruflich bisher
vermittelt wurde, gerät dabei kräftig ins Wanken. Nicht nur im Fall Macamo
wird die Kriminalitätsstatistik kräftig geschönt, auch weitere Todesfälle
des Jahres 1983 werden verdächtig eilig als Unfall oder Selbstmord abgelegt.
Für Otto ist nicht zu übersehen, dass die offizielle Kriminalstatistik
Kapitalverbrechen vertuscht, darunter auch explizit ausländerfeindliche
Straftaten.
Max Annas schickt einen zunächst alterslos grau wirkenden Kriminalbeamten ins
Krimi-Genre, der im Laufe der Ermittlungen das offiziell vertretene Weltbild der
DDR revidieren muss. Ottos Berufsehre und sein Stolz auf seinen Staat machen ihn
in diesem Staat zum Querulanten. Neben Ermittlungen, die aus politischem Kalkül
gedeckelt werden, und offen vertretener Ausländerfeindlichkeit erleben Max
Annas Leser anschaulich die Last des Alltags in einer Mangelwirtschaft mit. Wer
hat welche Konsumgüter erhalten und woher, diese Frage bestimmt private
Gespräche und reduziert letztlich menschliche Beziehungen auf ihre
Nützlichkeit. Die mangelhafte Versorgungslage als leistungshemmender
Zeitfresser finde ich neben vielen anderen Details auf den Punkt getroffen. Die
und wir, diese Abgrenzung durchzieht - gerade höchst aktuell - die Handlung wie
ein roter Faden und sie begründet das Wegsehen und Beschönigen, das Otto
Castorps Ermittlungen behindert.
Band 2
Morduntersuchungskommission. Der Fall
Melchior Nikoleit
Fazit
"Morduntersuchungskommission" rückt Morde aus rechtsradikalen Motiven
zu DDR-Zeiten in den Focus zurück, die vielen erst nach der Wiedervereinigung
bekannt wurden, und zeigt eine Fülle von Details aus dem DDR-Alltag. Sprachlich
gibt Max Annas Kriminalroman Einblick in verschiedene Milieus, hier ist u. a.
das deutsch-deutsche Glossar aufschlussreich. Er zeigt wie staatliche Willkür
Menschen "zusammenfaltet" und besonders eindringlich die Kosmetik
offensichtlicher Missstände.
Volle Punktzahl und meine überzeugte Empfehlung!
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 23. Juli 2019 2019-07-23 09:01:22