Siri Hustvedts Essaysammlung befasst sich mit der Wahrnehmung von Kunst, ihrem
eigenen Schreiben und dem Schreiben allgemein, sowie der Frage, was den Menschen
ausmacht. Da Hustvedt an einer vermutlich neurologisch bedingten Erkrankung
mit unklarer Diagnose leidet
(Die zitternde Frau) und mehrere Jahre eine analytische
Psychotherapie absolvierte, betrachtet sie die Welt aus der ungewöhnlichen
Perspektive der Autorin, die sich seit ihrer Jugend für Naturwissenschaften
interessiert hat und sich aktuell mit Neurologie und Psychiatrie befasst. Sie
besetzt mit ihren Interessen das nahezu rein männliche Terrain der Sachtexte
und Vorträge und sieht sich dort mit der Angst männlicher Experten vor der
Entthronung konfrontiert. Hustvedts Erkrankung hat sie zum einen mit ihrem
fehlenden naturwissenschaftlichen Wissen konfrontiert, zum anderen mit einem
gewissen Tunnelblick in den Naturwissenschaften, der den Anforderungen an
interdisziplinäres Denken nicht mehr genügt. Als interessierte Laiin nimmt die
Autorin die Rolle einer außenstehenden Beobachterin ein, der mangelnde
Flexibilität im Denken aus dieser Position besonders deutlich wird.
Die in den Naturwissenschaften erforderliche Eindeutigkeit und Präzision prägt
das Denken und steht geisteswissenschaftlichen Methoden diametral entgegen.
Geprägt ist das von Hustvedt wiederholt thematisierte Unverständnis von
Geistes- und Naturwissenschaften nachhaltig davon, dass die Naturwissenschaften
lange Zeit als rein maskulin definiert waren. Bis heute bleibt, man und mankind
gleichsetzend, in der Arzneimittelforschung die speziell weibliche Ausprägung
von Erkrankungen unerforscht.
Hustvedt betrachtet ihr zentrales Thema der Pluralität von Perspektiven
sowohl aus ihrer Biografie als Tochter norwegischer Einwanderer in Minnesota,
als Patientin zwischen Neurologie und Psychiatrie, aber auch generell in der
Verknüpfung von Literatur und Wissenschaft. Interessant fand ich ihre
Erkenntnis, dass Unterhaltungsliteratur die Weltsicht ihrer Leser bestätigen
und bestärken soll und Perspektivwechsel in diesem Genre vermutlich selten ein
Wohlgefühl hervorruft.
Als Autorin, die mit einem selbst erfolgreichen Autor verheiratet ist, sieht
Hustvedt sich noch immer mit der herablassenden Annahme konfrontiert, Paul
Auster hätte sie unterrichtet oder (die aus männlicher Perspektive verfassten)
Teile ihres Werkes geschrieben. Die irritierende Tatsache, dass Frauen den
maßgeblichen Umsatz im Buchhandel generieren, ihnen als Autorinnen jedoch noch
immer wenig zugetraut wird, durchzieht Hustvedts Essays wie ein roter Faden.
Aus Essaysammlungen muss man sich die Rosinen herauspicken. Im Fall von Siri
Hustvedt sind das Verknüpfungen, die sie zwischen ihrem Schreiben und ihren
Figuren, ihrer Biografie und ihrer Lehrtätigkeit im Fach Psychiatrie am Weil
Cornell Medical College zieht. Es sind oft nur wenige Sätze, die besonders
Romanlesern tiefe Einblicke ermöglichen. Hustvedts norwegisch geprägte
Rezeption Knausgårds könnte die Frage aufwerfen, wie Knausgård gelesen
würde, wenn er unter einem weiblichen Pseudonym veröffentlicht hätte …