Ivan Nagel gehört zu den führenden Philosophen unserer Zeit. 1931 in Budapest
geboren, wurde er während des Nationalsozialismus verfolgt und emigrierte im
Alter von 17 Jahren aus Ungarn. Er studierte Philosphie, Soziologie und
Germanistik in Paris, Heidelberg, Durham, Zürich und - zuletzt - bei Adorno in
Frankfurt am Main. In seinem Buch - einer Sammlung von Essays - untersucht Ivan
Nagel die Ursachen der Kriege und der angespannten Weltsituation seit dem 11.
September 2001. Fördert der amerikanische Hegemonieanspruch und der Dualismus,
in den die Regierung Bush ihre Gegner dualistisch in gut und böse teilt, die
Kriegsgefahr? "Jeder Krieg fängt, bevor er anfängt, mit Lügen an" -
so die Feststellung Nagels in dem hier abgedruckten Aufsatz: "Der Krieg und
die Lügen", der erstmals in der Süddeutschen Zeitung am 19. Februar 2003
abgedruckt wurde. Nagel weist in seinen Aufsätzen nach, dass die US-Regierung
unter George Bush, durch offensichtlichen Wahlbetrug in Florida und Texas ins
Amt gelangt (S. 15), den Krieg gegen den Irak ausgelöst hat. Er zitiert eine
Äußerung des stellvertretenden US-Verteidigungsministers Wolfowitz über die
Legitimation des Krieges: "Im Kabinett entschieden wir uns für die einzige
Sache, auf die sich alle einigen konnten, die Massenvernichtungswaffen."
(S. 13). Dies zeige, dass jeder diesen Kriegsgrund, ob wahr oder erfunden, für
brauchbar hielt. Gegen diese Scheinpragmatik nützlicher Lügen sprächen - so
Nagel - heute zwei Bedenken: "Erstens: Nordamerika und Westeuropa leben in
Verfassungen der Demokratie. Wenn sie so weiterleben wollen, müssen sie die
Volksherrschaft vor dem konkurrierenden Herrschaftsstreben ihrer eigenen
Geldmacht und Militärmacht schützen... Zweitens: Die Lügner machen schlechte
Politik; denn sie beginnen, an die eigenen Lügen zu glauben. Nicht Unmoral,
sondern Unvernunft hat uns die Katastrophe des Irak-Kriegs beschert: den Terror
global erregt, statt ihn lokal auszulöschen..."
Nagel plädiert für Ehrlichkeit und Moral in der Politik. Nicht Heuchelei
heisse die Gefahr aus dem jetzigen Washington für Amerika und den restlichen
Globus. "Sie heißt: die Lüge, die sich für die Wahrheit hält...Das
Böse, das sich als das Gute weiß." (S. 16). Terror - so Nagl in diesem
wichtigen Buch - sei die "Waffe des Ungleichen; und Ungleichheit wächst
von Tag zu Tag. "
Nagel zitiert die Friedensnobelpreisträgerin Susan Sontag, die wenige Tage nach
dem 11. September 2001 schrieb: "Die einstimmig beklatschten,
selbstzufriedenen Einschlafreden bei sowjetischen Parteitagen kamen uns zu Recht
verachtenswert vor. Die Einstimmigkeit der salbungsvollen,
wirklichkeitsverstellenden Rhetorik, die unsere amtsträger und Medien dieser
Tage von sich geben, ist, nun ja, unwürdig einer reifen Demokratie. Lasst uns
zusammen trauern. Aber lasst uns nicht zusammen verblöden."
Nagel vertraut jedoch auf die Fähigkeit der Amerikaner, sich nicht nur mit der
Größe und Kraft ihres Landes zu identifizieren, sondern auch auf ihre Courage,
das Schlimme nicht auf andere zu schieben, sondern dieses als ihre eigene
Verantwortung zu erkennen und dazu zu stehen - statt es wie manche Europäer auf
irgendwelche Anderen, irgendwelche Sündenböcke zu schieben. Diese Fähigkeit
zur ungeschminkten Ehrlichkeit und Selbstreflexion werde es zu verhüten
wissen, dass unter George W. Bush "Freiheit und Demokratie" zu
Falschwörtern würden.
Fazit
Ich habe neben den Publikationen von Altbundeskanzler
Schmidt (insbesondere sein "Auf
der Suche nach einer öffentlichen Moral") oder den in die selbe Richtung
weisenden Appellen der verstorbenen Zeit-Herausgeberin
Marion Gräfin Dönhoff selten eine
Schrift gelesen, die derart Ehrlichkeit und Moral auch in der öffentlichen
Politik einfordert und hellsichtig die Lüge als Zwillingsbruder von Gewalt und
Krieg entlarvt. Nicht umsonst hat Nagel das Motto Martin Luther Kings: "Die
Zeit kommt, da Schweigen Verrat ist. Wir sind gefordert, für die Schwachen zu
sprechen, die keine Stimme haben: für die Opfer unser Nation, die sie
"Feinde" nennt" der Einleitung zu seiner Aufsatzsammlung
vorangestellt. Es könnte auch das Motto dieses Buches sein, welches ich für
eine der wichtigsten Neuerscheinungen dieses Jahres halte. Ich habe selten ein
Werk gelesen, welches - wie Christopher Schmidt in der "Süddeutschen
Zeitung" zu recht konstatiert hat - ein solch "fein[es] Ohr für die
gespaltene Zunge der Macht" besitzt. Unbedingt lesen!
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 28. April 2004 2004-04-28 20:41:59