Richard J. Evans hat ein mit vielen Vorschusslorbeeren versehenes Buch über das
Dritte Reich vorgelegt, welches den Anspruch erhebt, auf erzählende Weise eine
Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus zu liefern, wie sie Karl Dietrich
Bracher mit seinem Standardwerk "Die deutsche Diktatur" (1969) oder
William L. Shirer in seinem Werk "Aufstieg und Fall des Dritten
Reiches" geliefert hat.
Ich habe das Buch gelesen und war äußerst enttäuscht. Der Autor, Professor
für Moderne Geschichte an der Universität Cambridge ist Spezialist für die
deutsche Mentalitätsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, etwa über die
Frauenbewegung. Hauptziel des vorliegenden Buches und der geplanten zwei
Folgebände sei, "möglichst viele wesentliche Aspekte der Geschichte des
Dritten Reiches - nicht nur Politik, Diplomatie und Militärisches, sondern auch
Gesellschaft, Wirtschaft, Bevölkerungspolitik, Antisemitismus, Polizei und
Juytiz, Literatur, Kunst und Kultur - in einer Breite zu erfassen, die den
früheren Ansätzen aus verschiedenen Gründen gefehlt hat, sie zu bündeln und
zu zeigen, wie sie miteinander zusammenhängen."
Zielgruppe, so der Autor, sei der interessierte Laie, nicht der Wissenschaftler,
dem er in der "erzählenden Darstellung" - die er in ausdrücklichen
Gegensatz zur analytischen, von Sozialwissenschaftlern entlehnten Methode stellt
- diese Aspekte vermitteln wolle.
Die Aufgabe, eine Mentalitätsgeschichte der Deutschen zwischen Bismarck und
Hitler zu liefern und damit den Menschen in den Blickpunkt zu nehmen, ist dem
Autor zwar gelungen. Gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Aspekte
kommen in dieser Darstellung jedenfalls zu kurz. Plessners Verdikt von der
"verspäteten Nation", bereits aus dem Jahre 1959 (Erstfassung 1935),
die die kultur- und geistesgeschichtlichen Ursachen der deutschen Katastrophe,
nämlich die Ungleichzeitigkeit der demokratischen Entwicklung untersucht,
bleibt ausgespart. Der Gegensatz zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus,
bei Plessner hervorragend herausgearbeitet, kommt als geistesgeschichtliche
Ursache des Nationalsozialismus nicht vor. Deutschland hatte - wie Heinrich
August Winkler zu recht bemerkt - auch unter der Ungleichzeitigkeit der
Demokratisierung zu leiden, da ein konstitutioneller Verfassungsstaat in
Preußen aufgrund von Bismarcks Weigerung, die Macht des Kaisers zu beschneiden,
im Gegensatz zu England nicht beschritten wurde. Andererseits verfügte
Deutschland bereits auf nationaler Ebene seit 1871 über das allgemeine gleiche
Wahlrecht.
Zu kurz kommt mir auch das "antidemokratische Denken in der Weimarer
Republik", welches Kurt Sontheimer so hervorragend herausgearbeitet hat.
Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte, wie sie etwa bei Heinz Höhne:
"Gebt mir vier Jahre Zeit" eindrucksvoll herausgearbeitet werden,
fehlen völlig. Charakteristisch ist die kursorische Behandlung der deutschen
Revolution 1918/19. Es war doch gerade die "Krux" der Republik von
Weimar, dass sich auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene die alten
Eliten in Weimar haben durchsetzen können und mit dem sogenannten
Ebert-Gröner-Pakt die "Kompromisssituation" geschaffen wurde
(politische Demokratisierung aber keine Entmachtung der alten Eliten des
Kaiserreiches), die - neben Versailles - zur Zerstörung der Republik
beitrugen.
Auch die Weimarer Kultur wird sehr einseitig betrachtet. "Die Weimarer
Kultur war von Mord und Greueltat, Ausschweifung und Verbrechen geradezu
besessen, zur Beunruhigung vieler Bürger." Dass in Weimar eine kulturelle
Blüte entstand, die es zum Eldorado vieler Künstler machten (vgl. Jost
Hermand/Frank Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik), wird schlicht
ausgeblendet.
Es gibt noch weitere unbegreifliche Fehler in diesem Buch. So scheiterte die
Weimarer Koalition sowohl an der Intransingenz von DVP und SPD, die nicht bereit
waren, den sogenannten "Brüning-Kompromiss" in der Frage der
Arbeitslosenversicherung zu akzeptieren und nicht nur an einer Seite (hier der
DVP, wenn diese auch sicherlich die treibende Kraft war). Die berühmte Kölner
Unterredung von Januar 1933 zwischen Papen und Schröder, die
"Geburtsstunde des Dritten Reiches" und Papens Rolle zur
Machterschleichung Hitlers wird schlicht ignoriert.
Hier kommt noch etwas hinzu: eine kritische Analyse des Faschismus-Begriffes -
seine Abgrenzung zum Nationalsozialismus - fehlt völlig. Nun muss man nicht
Kühnls "Faschismustheorien" für der Wahrheit letzten Schluss in
dieser Debatte halten und mag dessen Theorien kritisch gegenüberstehen. Dass es
aber doch auffällig ist, dass überall in Europa gleichzeitig faschistische
Bewegungen entstanden und gerade in rückständigen Ländern an die Macht kamen
(vgl.: Wolfgang Wippermann: Europäischer Faschismus im Vergleich 1922-1982),
darauf müsste doch ein Autor, der ein Standardwerk zum Dritten Reich auf dem
neuesten Forschungsstand vorlegen möchte, eingehen. Die - lapidare - Äußerung
aus dem Vorwort: "Neuere Historiker...haben erkannt, auf welche
Schwierigkeiten es stößt, den italienischen Faschismus, den deutschen
Nationalsozialismus und andere, ähnliche Bewegungen der äußersten Rechten in
der Zwischenkriegszeit als SPiielarten eines einzelnen, allgemeien Phänomens
des Faschismus aufzufassen, sobald man sich auf die soziale Basis oder auf die
Weltanschauung dieser Bewegungen konzentriert" kann doch wohl nicht alles
sein.
Dem Buch fehlt es außerdem vollkommen an einer chronologischen Struktur,
welches gerade die Zielgruppe, den interessierten Leser, völlig verwirren
dürfte. Heinrich August Winkler hat in seiner - hervorragenden - Rezension im
"Spiegel" 12/2004 völlig zu recht von einem "Stolperweg"
gesprochen.
Fazit
Auch als Einführung hält das Buch - mit Ausnahme von interessanten Aspekten
der Mentalitätsgeschichte, etwa der Analyse des Antisemitismus - nicht, was es
verspricht. Als Standardwerk sollten weiterhin Bracher, Shirer, Frey und Herbst
sowie Thamer: "Verführung und Gewalt" herangezogen werden. Es bleibt
zu hoffen, dass die folgenden Bände dem wissenschaftlichen Anspruch, den der
Autor in seinem Vorwort aufstellt, besser gerecht werden.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 28. April 2004 2004-04-28 20:21:28