Umfassender Einblick in die Geschichte Europas bis 1914
1815 war nicht nur das Jahr, in dem Napoleon Bonaparte endgültig an seinen
imperialistischen Zielen gescheitert ist, sondern auch der Zeitpunkt, an dem die
Folgend er französischen Revolution mitsamt ihren gewaltsamen Auswüchsen
"in den Griff" kamen und sich Europa begann, zu konsolidieren (auch
wenn 1870/71 noch einmal ein deutsch-französischer Krieg ausgefochten wurde).
Fragen der Aufhebung der Leibeigenschaft (bis hin über die Mitte des 19.
Jahrhunderts hinaus), der "demographische Übergang" nach 1850, die
Entwicklung sozialer Strukturen, die im modernen Sozialstaat im 20. Jahrhundert
manifestiert wurden (Bismarcks Rente u.a.), all das zeigt einen Zeitraum auch
grundsätzlichen Wandels auf, auch wenn das feudale System der Adelsherrschaft
bis 1914 fast unangefochten noch vorherrschte.
Daneben weist dieser von Evans gewählte Zeitraum auch den Aufstieg und die
Festigung der Nationalstaaten in Europa auf mitsamt kleinerer und größerer
Revolten gegen "Vielvölkerreiche" wie Österreich / Habsburg. Was,
klug gewählt, eben damit beginnt, dass sich Europa im Jahr 1815 trotz aller
Kriege einen Vorsprung vor anderen "Weltreichen" in Asien oder im
Orient erarbeitet hatte. Einen Vorsprung, den Evans in seinen historischen
Gegebenheiten im Buch sorgsam aufarbeitet, bis diese Vormachtstellung im ersten
Weltkrieg durchaus nachhaltig ins Wanken geriet. Damit ist auch das Ende des
Betrachtungszeitraums 1914 inhaltlich verständlich von Evans begründet. Da
Evans zudem einen "transnationalen" Ansatz für seine umfassende
Darstellung wählt, gelingt durch die Lektüre ein "globaler" Blick
auf diesen Zeitraum, der die Ereignisse und Entwicklungen in Europa in einen
großen Zusammenhang stellt und den Blick auf Europa besonders schärft.
"Universalgeschichte ist etwas anderes, als die Summe der
Einzelgeschichten" (Lord Acton) und in diesem Sinne erfordert die Lektüre
beim Leser Konzentration ob des breiten Rahmens, in den Evans seine
Betrachtungen stellt, dafür erhält man dann aber auch einen breiten, globalen
Blick auf die Epoche, in dem gerade die USA (kriegsentscheidend schon im ersten
Weltkrieg) als "Mac hat von Außerhalb" auch einen Spiegel vor die
europäischen Verhältnisse setzt.
Europäischer Frühling, soziale Revolution, Aufstieg der Demokratie du die
Auswirkungen des später überhand nehmenden Imperialismus sind dabei die
Kernthemen, die Evans vor die Augen des Lesers stellt und diese mit den
kulturellen Entwicklungen der Epoche ("Eroberung der Natur" als
Erweiterung der Macht auch auf die Natur; "Das Zeitalter des
Gefühls") korrespondierend jeweils klar auf den Punkt formuliert. Mit
einem besonderen Augenmerk auf die "Ungleichheit" im Volk Europas.
Denn nach Auflösung der Leibeigenschaft kam es nicht zu einer rasanten sozialen
Angleichung, sondern neue Abhängigkeiten (gerade mit der beginnenden
Industrialisierung verbunden) entstanden, mithin ein Wechsel vom Feudalismus zur
Oligarchie und Plutokratie.
Aber auch der Kampf gegen bis dato tödliche Krankheit, das Zusammenwachsen der
Welt durch transatlantische Kabel, die Emanzipation von religiösen
Führungsansprüchen, später das Aufkommen der "Frauenbewegung" oder
die "Kraft des Kabaretts", vielfach sind die betrachteten Themen und
breit dadurch das entstehende Bild. Somit ist diese Epoche natürlich vor allem
eine Geschichte der Macht, der Auflehnung gegen ungerechte Lebensumstände, der
Rebellion und der Gegenrevolution, eine Zeit aber auch, in der sich das
Selbstverständnis Europas ebenfalls in den Nationalstaaten festigte. Gut
gelungen ist dabei in der Form auch, dass Evans in jedem Kapitel die Kernthemen
anhand einer konkreten Person griffig als "Praxisbeispiel" setzt und
damit dem Leser auch emotional einen Zugang zum "Leben" des jeweiligen
Abschnitts der betrachteten Epoche gut ermöglicht.
Fazit
Eine anregende, sachlich fundierte und mit "globalem Blick" verfasste
Geschichtsbetrachtung, die das heutige Europa in seiner Entstehung und seinen
wichtigen inneren Linien bestens vor Augen führt.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 08. November 2018 2018-11-08 13:18:59