Erika zur Linde findet ihren betagten Vater erschossen an seinem Schreibtisch
vor. Davor, dass im Hause zur Linde erstaunlich viel jüdischer Besitz
aufgereiht ist, hat Erika bisher offenbar die Augen verschlossen.
Bechsteinflügel, kostbares Porzellan, all das durften jüdische Familien bei
Ulrichs Eltern in Berlin "unterstellen", bevor sie emigrierten oder
vergast wurden. Der väterliche Nachlass enthält, getarnt in mehreren
Blancoheften zum Eintragen von Rezepten, die Tagebücher von Erikas früh
verstorbener Mutter. Sophie zur Linde hat für die Kriegszeit ungewöhnlich
offen und ausführlich Tagebuch geführt und den Namen der Hauptperson nicht
verschlüsselt: Felix Auerbach, der mit ihr und ihrem Mann befreundet war.
Erika erfährt, dass ihr Vater kurz vor seinem Tod einen Brief aus den USA
erhielt. Paul Singer, der Sohn von Anna Singer, deren Bruder Felix schon 1943
verschwunden sein soll, erkundigt sich nach einem zurückgelassenen Manuskript
seines Onkels, weil Ulrich zur Linde in den 60ern einen viel beachteten
Kriegsroman veröffentlicht hat. Singer kündigt an, dass er im Herbst 1989 zu
einem Recherche-Auftrag nach Deutschland kommen und mit Ulrich über das
Manuskript sprechen wird. Hat sich Ulrich zur Linde erschossen, weil er
Auerbachs Roman unter seinem Namen veröffentlicht hat? Erika trifft eine
Zeitzeugin, die Auerbach gut gekannt hat – und sie muss sich fragen, welche
Rolle damals ihr Onkel spielte, der bisher in der DDR lebte.
Da Erika die Sütterlinschrift ihrer Mutter nur mühsam lesen kann, kommt sie
mit den Tagebüchern nur langsam voran. So dauert es eine Weile, bis ihr die
sonderbare Beziehung zwischen dem Ehepaar zur Linde und Felix Auerbach bewusst
wird. Sophie war offenbar mit Ulrich eine Vernunftehe eingegangen, weil sie nur
so als Journalistin einer Frauenzeitschrift arbeiten konnte. Sie ist
Parteimitglied, Schwester eines SA-Mannes, und will anfangs kaum glauben, dass
die Auerbachs Juden sind – so blond wie Felix ist. Obwohl sie berufstätig
ist, stellt sich Sophie als Dummchen ohne eigene Meinung dar, das sich
hauptsächlich für Mode und Kosmetik interessiert. Sie lebte in gefährlichen
Zeiten... Je weiter Erika in den Tagebucheinträgen vorankommt, umso mehr
wundert man sich als Leser, warum Felix nicht emigrierte, als er die Gelegenheit
hatte, stattdessen in der Beziehung zu den zur Lindes weiter unbekümmert mit
dem Feuer spielte. Tagebucheinträge Sophies wechseln in dem komplexen Plot ab
mit Abschnitten eines allwissenden Erzählers und Ereignissen von 1989, die
Erika aus der Ichperspektive erzählt. Die Kombination aus Erikas Recherche und
der Gegenwart des Jahres 1989 liest sich flott weg; erleichtert wird die
Lektüre durch die Datumsangabe zu jedem Abschnitt.
Fazit
Im Prolog wird 1945 im Garten eines Berliner Hauses ein Toter vergraben. Der
unbekannte Tote und die Frage, ob Ulrich zur Lindes erfolgreicher Roman ein
Plagiat sein könnte, lassen Remins Roman beinahe wie einen Krimi wirken.
Glaubwürdige historische Details und differenzierte Figuren (die alles andere
als Sympathieträger sind) sorgen für spannende Lektüre.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 22. Oktober 2018 2018-10-22 20:29:31