Sprachlich und inhaltlich mit vielfachen Ebenen versehen
Junior und Senior, dass ist eines der beherrschenden Themen dieses, gerade auch
sprachlich, dichten und mit Verästelungen versehenen Romans, in dem Heinrich
Übel, der Juniorchef der Firma, zunächst sein Auto zerlegt. Hinter einer
Brücke. Oder, je nach Blickrichtung, vor einer Brücke, die es zu überqueren
gelten wird. Wobei lange nicht klar ist, was das für ein Weg "Heim"
nun so genau ist und wie der wirkliche Zustand des Heinrich Übel sich
darstellt.
"Dann pflegte er sentimental zu werden: O gute Mutter Gertrud, jammert er,
was ist aus deinem Isidor geworden – ein verkrachter Schauspieler". So
tönt Quassi, Bekannter von Heinrich, Egomane, "Schwätzer, Schnorrer und
Säufer", vor allem aber jener, der Heinrich genau dieses Auto geliehen
hatte. Doch warum hat er es genommen, wohin wollte der Junior? Tatsächlich zur
Firma, zum Gespräch mit dem Senior? Und liegt nun im Frost neben dem Wrack des
Chevrolets. Aber warum trägt er, der "Sohn der Gummifabrik"
Plastikstiefel? Warum wirken die Hände wie eingeschlafen, wo sich Heinrich doch
subjektiv bewegt, aufrafft nach dem Unfall? Und wieso wacht er in einem Hotel
auf, in Italien, inmitten fremder Menschen?
"Seien Sie versichert, Signore, Sie sind hier unter Freunden".
Was man vielleicht von der eigenen Familie nicht unbedingt behaupten kann. Denn
auf einigen Gummimatten im Büro des Vaters finden sich kleine Löcher. Von High
Heels. Löcher, die Spuren der familiären Spannungen aufzeigen. Die sich
langsam, Schritt für Schritt inmitten vieler Assoziationen, Rückerinnerungen
und dem Versuch, sich die Gegenwart zu erklären, eine gewichtige Rolle spielen
werden.
Genauso, wie die Frage, was mit Mimi, Heinrichs Mutter, geschehen ist und was
der kleine Heinrich alles mitangesehen hat. Damals. Oder nicht? Denn die Frage,
was ist Realität und was Fantasie, was scheint aus einem Delirium zu kommen und
was sind handfeste Momente zwischen Vater und Sohn und Brücke und dem Hotel in
Italien, das bleibt lange unklar, bietet viele Impulse und führt nicht selten
auch ein wenig in den Leser in die Irre. Und bleibt so als Lektüre durchgehend
spannend, kräftig und bildreich erzählt mitsamt vielen, emotional dichten und
nahegehenden Momenten.
Ein im Gesamten durchgehender, reflektierter, mit Schmerzen versehener Weg
"heim", aber nicht in einfacher Form, Denn zum einen, als derselbe
wird Heinrich Übel nicht mehr die Welt betreten, die er "Heim" nennt
und, das eher mit Andeutungen offen gehaltene Ende des Romans lässt den Leser
ebenfalls ahnen, dass hier eine tiefe Wandlung vollzogen wurde, wenn nicht sogar
die eine Wandlung, die auf jeden zukommt und am Ende der Tage nichts mehr so
sein lässt, wie es war.
So verbleibt Hürlimann bei einigen offenen Fragen (und das ist gut so), denn
ebenso, wie eine Genesung nach einem Unfall oder einem Blackout, der nun
rekonstruiert werden müsste (wie kommt der Mann überhaupt nach Italien?),
ebenso, wie ein Stern, ein Satellit, ein Flugzeug blinken mögen auf dem Weg
heim, kann dies auch verstanden werden als letztes Loslassen. Aber vielleicht
bietet sich auch eine tatsächliche Heimkehr nach langer Trennung als Ausweg aus
einem gescheiterten Leben.
Fazit
Auch wenn diese Fragen ein stückweit dem Leser überlassen bleiben, eines
verbindet Leser, Roman, bildkräftige Sprache und irritierende Erlebnisse: Sich
selbst zu finden in einer entwurzelten Welt mitsamt dem gesamten Kaleidoskop der
Beziehung als Sohn zum eigenen Vater, das ist zeitloser und., in diesem Fall,
kräftig umgesetzter Stoff, der die Lektüre ohne Frage wert ist.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 27. September 2018 2018-09-27 13:47:05