Für einen Wandel in den Köpfen (nicht nur den politischen)
Als promovierter Historiker und Journalist im Hauptberuf verbindet Christoph von
Marschall in seinem neuen Werk fundiert zentrale politische Themen der Gegenwart
Deutschlands in Bezug auf seine Rolle in Europa in der Welt mit einem höchst
lesbaren, flüssigen Stil. Mit vielen griffigen Formulierungen und immer klar
auf den Punkt kommend, mahnt von Marschall eindringlich an, die faktisch
gewichtige Rolle Deutschlands in der Welt auch verantwortlich und damit ein
stückweit federführend gegenüber den "Freunden" anzunehmen. Was
schon damit beginnt, sich anders als nur reaktiv oder auf schnelle Antworten auf
irritierende Äußerungen zu geben mit der Verbindung zu den USA
auseinanderzusetzen und dies, natürlich, möglichst breit auch im Verbund der
anderen Nationen zu gestalten. Die Wertegemeinschaft des Westens als
"normatives Projekt" nicht nur verbal zu bekunden, sondern auch
tatkräftig sich einzubringen. Was, wie von Marschall aufführt, aktuell nicht
unbedingt in gegebenem Umfang der Fall ist und ein politisches Umdenken
erforderlich macht.
"Kann Deutschland ein Sonderfall bleiben, für dessen Rolle in der Welt
andere Regeln gelten als für andere große EU Staaten?" - und die Frage
schließt sich an, ob es reicht, in Deutschland den nationalen und europäischen
Status quo zu pflegen, das Erreichte zu bewahren und intensiven Veränderungen
gegenüber sich wenig aufgeschlossen zu zeigen. Beides verneint von Marschall
massiv und öffnet damit den Blick für die Vorschläge, die er in den einzelnen
Kapiteln als notwendige Veränderungen vor Augen führt.
Gerade weil, und das erläutert von Marschall überzeugend, die Verbündeten
mehr und mehr auch ungeduldig erwarten, dass Deutschland sich
"normalisiert", sprich seiner faktischen politischen und
wirtschaftlichen Bedeutung auch eine entsprechende politische Rolle
korrespondieren lässt. Nicht alles ist immer nur mit Geld in Form von Zahlungen
zu lösen, sondern bedarf ebenso der Bereitschaft, Veränderungen aktiv auf den
Weg zu bringen und, ein stückweit, darin auch vorweg zu gehen. Eine
außenpolitische Führungsrolle und ein Anspruch, sich aktiv zu beteiligen.
"Die Minister und Fachleute aus anderen Ländern wünschen unter anderem,
Deutschland solle Europa führen, die EU revitalisieren (klare Vorschläge aus
Frankreich liegen vor), die Spannungen zwischen dem reichen Norden und dem armen
Süden überbrücken" - Momente, für die es zwar auch, aber nicht nur,
finanzieller Aufwendungen bedarf, die aber vor allem den Willen zur politischen
Führung und Verantwortung außenpolitisch erfordert.
"Deutschland ist ein bisschen zu groß und wirtschaftlich zu stark, als
dass wir die Weltpolitik nur von der Seitenlinie aus kommentieren könnten"
- warum sich Deutschland mit einer solchen Rolle schwertut, wo diese gar
"geflohen" wird und was sich verändern müsste, um dem faktischen
Einfluss Deutschlands auch bewusst und offen gerecht zu werden, das alles legt
von Marschall Punkt für Punkt vor.
Sicherheitspolitik, eine zögernde Gesellschaft, die mit der Wahrung von
sozialen Errungenschaften in der Gegenwart auf Sichtweite mehr beschäftigt ist,
als mit der Wahrung der westlichen Werte-Idee auf Zukunft hin gesehen, die
Dringlichkeit von aktiv gestalteten Regeln für den Handel in der modernen Welt
und das Digitale, die feste Verpflichtung zu Europa, der Umgang mit den USA
unter Trump, globale klare Haltungen, all das macht von Marschall als
Schwachpunkte fast in der Mentalität aus, die in (noch leisen) Vorwürfen des
"Drückebergers", einer gewissen "Ungeduld mit den
Mustereuropäern" oder dem Vorwurf des "Trittbrettfahres" durch
die USA einhergehen.
Und alles dreht und wendet sich, auch im Buch, um den Anspruch und eine gewisse
Zögerlichkeit der gestaltenden politischen Kräfte, "dass wir für unsere
Interessen eintreten müssen". Laut und teils auch fordernd. Denn
"Sicherheit und Wohlstand" sind Errungenschaften, "für die man
etwas tun muss", und keine Selbstverständlichkeiten, wie es immer noch die
Haltung in Deutschland zu sein scheint.
Fazit
Ein kluges, aufrüttelndes, forderndes Werk, dass mit seinen Argumenten und
differenzierten Betrachtungen überzeugt.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 19. September 2018 2018-09-19 10:22:37