Die Bibel
Bei einem der drei Bücher, die ich mir für einen Daueraufenthalt auf der sprichwörtlichen einsamen Insel
auswählen dürfte, brauchte ich keinen Augenblick zu zögern: Das wäre die Bibel.
"Der Umgang mit der Bibel ist ein großes und atemberaubendes Abenteuer", hat Manfred Hausmann, ein
Dichter unserer Zeit, gesagt, und das kann ich nur aus vollem Herzen bestätigen. Meine Begegnung mit
diesem außergewöhnlichen Buch begann in frühen Kindertagen, als ich seine Geschichten erzählt bekam, sie
setzte sich fort über die Jahrzehnte, und obgleich ich es nach unzähligem Lesen und Hören von der ersten
bis zur letzten Seite zu kennen glaube, entdecke ich doch jedes Mal, wenn ich es aufschlage und mich
darin festlese, wieder etwas Neues.
Die Bibel ist ein Sammelwerk aus 66 einzelnen Büchern - daher auch der Name "biblia" (lat. für
"Bibliothek") und die Bezeichnung "Buch der Bücher". 39 davon bilden das (jüdische) "Alte Testament",
d.h. jenen in hebräischer und aramäischer Sprache geschriebenen Teil, der dem heiligen Kanon der Juden
entspricht; die anderen 27 Bücher bilden das griechisch verfaßte (christliche) "Neue Testament".
("Testament" hat hier nichts zu tun mit den Festlegungen für den Todesfall, sondern bedeutet, abgeleitet
von lat. "testimonium", "Zeugnis", "Bezeugung" und meint den Bund Gottes mit den Menschen vor Christus
["Altes Testament"] und durch Christus ["Neues Testament"].)
Es ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, wann die ersten Teile des "Alten Testaments"
niedergeschrieben worden sind, nachdem sie über viele Generationen mündlich weitererzählt worden waren,
angenommen wird heute etwa die Zeit um 1600 v.u.Z. Die letzten Teile mögen wohl um 400 v.u.Z. schriftlich
festgehalten worden sein.
Das "Alte Testament" enthält aus der Frühgeschichte des Volkes Israel Überlieferungen von den Erzvätern
und Propheten, Gesetze und kultische Vorschriften, Lieder und Sprüche, feierliche Texte, Lehrerzählungen
u.a.
Das "Neue Testament" besteht hauptsächlich aus vier Evangelien ("Guten Botschaften") vom Leben und Wirken
des Jesus von Nazareth, der Geschichte der urchristlichen Gemeinde und Briefen der Apostel ("Sendboten")
Jesu bzw. des neuen Glaubensweges. Die Entstehungszeit ist für den Zeitraum etwa von 50 bis 100 u.Z.
anzusetzen.
Die ältesten bisher bekanntgewordenen biblischen Urkunden sind auf Papyrus und Tierhäuten (Pergament) in
Rollenform geschrieben. Die Originale sind freilich verlorengegangen. Allein die Zahl der erhalten
gebliebenen hebräischen Abschriften wird auf ca. 6000 geschätzt.
Um 400 wurde der Kanon (die Gesamtheit der aufzunehmenden Bücher) der Bibel endgültig festgelegt und das
"Alte Testament" ins Griechische übersetzt und danach die ganze Bibel ins Lateinische. Bereits im Jahre
500 gab es die erste Handschrift in althochdeutscher Sprache. In den darauffolgenden Jahrhunderten ist
die Bibel in den Klöstern immer wieder kopiert worden. Diese Tätigkeit wurde als eine meditative Art des
Gottesdienstes empfunden, und so schufen die Mönche zum Lobe Gottes die kunstvollsten und kostbarsten
Buchhandschriften des frühen und späten Mittelalters.
Im Jahre 1534 vollendete Martin Luther nach vielen Jahren Arbeit sein großes Schöpfungswerk einer
(neuhoch-)deutschen Bibelübersetzung, die - wenn auch mehrmals revidiert (sprachlich angeglichen) - bis
zum heutigen Tage die bekannteste und am meisten verwendete in Deutschland geblieben ist. Sie hat den
Anstoß gegeben für die Entwicklung einer einheitlichen deutschen Sprache, und sie hat jahrhundertelang
den Sprachgebrauch der Menschen geprägt. Eine große Zahl von Redewendungen und Sprichwörtern, die wir
noch heute benutzen, sind Bibelstellen im Luther-Deutsch.
Bis ins XX. Jahrhundert war die Luther-Bibel nahezu die einzige deutsche Bibel. Seit Ende des I.
Weltkrieges sind allmählich erste neue Übersetzungen hinzugekommen, und nach 1945 ist ihre Zahl
sprunghaft angestiegen. Einer der Gründe dafür sind die neueren Erkenntnisse der Bibelwissenschaft, nach
denen es bei den zahlreichen hebräischen Handschriften viele verschiedene Lesarten gibt, die
unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten erlauben. Zum anderen ist es äußerst schwierig, ja nahezu
unmöglich, Formulierungen aus dem Hebräischen, einer Sprache, die völlig anders strukturiert ist als die
deutsche, und aus dem Altgriechischen so in unsere Sprache zu übersetzen, daß sie beim heutigen Menschen
möglichst die gleichen Vorstellungen und Gefühle erwecken, die im Ursprungstext gemeint sind. Entweder
man möchte dem Grundtext so weit wie möglich sprachlich treu bleiben und muß damit schwerer verständliche
oder gar mißverständliche Formulierungen in Kauf nehmen, oder man entscheidet sich für eine freiere
Übertragung, die der Absicht des Originals dann zwar vielleicht inhaltlich näher kommt, sich aber in der
sprachlichen Form zu weit vom ihm entfernt. Gerade das aber ist für diejenigen Christen unakzeptabel, die
an die Verbalinspiration (die buchstabengetreue Eingebung der Texte durch Gott) glauben. Zwischen diesen
beiden Gefahren standen und stehen alle Bibelübersetzer, und jeder versucht nach bestem Wissen und
Gewissen, einen akzeptablen Kompromiß zwischen den beiden Polen Formtreue und Inhaltstreue zu finden.
Von den heute gebräuchlichsten deutschsprachigen Bibeln sind die - mit Abstufungen - mehr formgetreuen:
die Elberfelder Bibel, die Zürcher Bibel, die Luther-Bibel und die Einheits-Übersetzung; und die mehr
inhaltsgetreuen sind: die Menge-Bibel, die "Gute-Nachricht"-Bibel und die "Hoffnung-für-alle"-Bibel.
Außer diesen existieren sehr viele weitere - mehr oder weniger gelungene - Versuche, dem sehr hohen
Anspruch einer Bibelübersetzung gerecht zu werden. Als eine besonders gute Lösung gilt die "Neue Genfer
Übersetzung", von der es bisher erst Teile des "Neuen Testaments" gibt.
Man kann heute Bibeln aller Art kaufen: große und schwere Altarbibeln ebenso wie winzige
Westentaschenbibeln; teure kunstvoll gestaltete und von berühmten Künstlern illustrierte mit feinstem
Ledereinband oder gar Intarsien auf dem Buchdeckel ebenso wie sehr preiswerte Gebrauchsbibeln für den
Alltag; Studienbibeln mit Einführungen, Erklärungen und Anmerkungen oder umfangreichen
Wörterverzeichnissen ebenso wie solche, die nur den reinen Text haben. Für jeden Gebrauch gibt es die
entsprechende Ausgabe in der gewünschten Übersetzung.
Während frühere Generationen mit der Bibel aufgewachsen sind, gibt es heute nur noch sehr wenige
Menschen, die sie kennen oder gar ganz gelesen haben. Bei manchen älteren Leuten steht die Konfirmations-
Geschenkausgabe der Bibel freilich auch noch fast unberührt im Bücherschrank. Oft sind es Vorurteile, die
davon abhalten, ein lebendiges Verhältnis zu ihr einzugehen, wie etwa diese: Das Buch ist in schwieriger,
altertümlicher Sprache geschrieben; es handelt von Dingen, die mir fremd sind und die ich nicht verstehen
kann; es ist langweilig und viel zu dick, und im übrigen glaube ich nicht an Gott und interessiere ich
mich nicht für Religion. Aber all diese Einwände sind unzutreffend:
Von den modernen Übersetzungen war bereits die Rede. Und das, wovon die Bibel handelt, sind nicht nur
Geschichten und Überlieferungen aus längst vergangenen Zeiten und fremden Welten; es sind Dinge, die hier
und heute geschehen und die mich persönlich in meiner Befindlichkeit ansprechen und zutiefst angehen.
Die Bibelbücher sind nicht langweilig, sondern lebendig und spannend, abenteuerlich und mitreißend,
unterhaltsam und zum Nachdenken anregend, jedes auf seine eigene Art und Weise.
Was die Bibel eigentlich ist, wird im Streit der Meinungen sehr gegensätzlich beurteilt. Den einen
erscheint sie als ein veraltetes Buch, gar zu weit entfernt von den Problemen der heutigen Welt, ein
Buch, das sie in manchen Aussagen sogar für fortschrittsfeindlich halten. Für die anderen ist sie ein
unverzichtbarer Teil der Weltkultur und des Lebens von immerwährender Aktualität. Unbestritten freilich
ist, daß man sich der Bibel vorurteilsfrei öffnen muß und daß es notwendig ist, sie in ihrer Dialektik
zwischen historischer Zeitbezogenheit und zeitloser Allgemeingültigkeit wahrzunehmen. Selbstverständlich
kann sie ebenso mißbraucht werden für heillose Ziele oder zur Begründung menschenfeindlicher
Anschauungen, wie dies z.B. gelegentlich mit dem Koran geschieht; aber davor ist letztlich kein noch so
wertvolles Gedankengut gefeit. Umso wichtiger ist es, den Geist vom Buchstaben zu unterscheiden. Außerdem
ist es äußerst wichtig für das rechte Verständnis der Bibel, sich auf das Weltbild ihrer Schreiber
einzulassen, auf deren - uns Heutigen leider fremd gewordenes - mystisches Denken und ihre oftmals sehr
bildhafte Sprache, die der neuzeitliche Mensch weitgehend vergessen hat.
Man muß auch nicht zwingend ein religiöser Mensch sein, wenn man in der Bibel liest. Auch Andersgläubige
und sogar Atheisten sagen, daß die Bibel ihnen viel gegeben habe. Zwar ist sie die "Heilige Schrift" der
Christenheit und (im "Alten Testament") die des Judentums und als solche für die Gläubigen "Gottes Wort",
aber trotzdem ist sie nicht nur ein Buch der Religion und des Glaubens, sie ist auch ein Buch der
Geschichte und der Kultur, ein Buch des Lernens und der Lebensbewältigung.
Wer die Bibel nicht kennt, der findet nur schwer Zugang zur bildenden Kunst und zur belletristischen
Literatur der Jahrhunderte bis heute, der findet den Schlüssel nicht zum Verständnis der
Geisteswissenschaften und Gedankengebäude, der Traditionen und Bräuche, der Lebensweisen und Konflikte
der Völker in Europa und im Nahen Osten während der letzten dreitausend Jahre und in der Gegenwart.
Wer die Bibel nicht kennt, dem bleibt auch manche Lebensfrage unbeantwortet und manche Lebenshilfe unerkannt.
Die Bibel war die Kampfschrift der Erneuerungsbewegung der Reformation, sie war die Grundlage für die
Bürgerrechtsbewegung in den USA, und sie ist in unserer Zeit die politische Kraft der Befreiungsbewegung
in Lateinamerika und Afrika. Die Bibel hat die Welt verändert und das Leben einzelner Menschen, und das
tut sie heute noch. Sie ist ein unerhört lebendiges Buch, sie ist das "unausschöpfbare Meer" (M.
Sperber), sie ist ein "Wegweiser in Richtung auf eine humanere Zukunft" (R. Jungk).
Ich habe eine ganze Sammlung unterschiedlicher Ausgaben der Bibel, und immer war eine davon in allen Höhen und Tiefen meines Lebens dabei.
Sie ist das Buch, das wie kein anderes zu mir gehört.
von
Eberhard Küttner
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