Auflösung
Da ist dieser Mann. Dieser Gefangene, gefesselte Mann, draußen im Schnee in der
Kälte. Nah beim Gebäude, dem Ausbildungsgebäude für "Allsecure",
eine moderne, international operierende, erfolgreiche, auch vom Militär
diverser Staaten eingesetzte Sicherheitsfirma. Eine, die dabei ist, den Krieg zu
privatisieren und sich dafür gut bezahlen lässt. Die dem lukrativen Geschäft
der Zukunft sich verschrieben hat. Und Amy ist dabei, Sicherheitsagentin dieser
Firma zu werden. Wenn es nach Gregory geht, einer Art Protege (und nach ihrer
Tante, die ihr diese Ausbildung vermittelt hat) scheinbar aber nicht, wenn es
nach Cindy oder den anderen Anwesenden, in Teilen surreal anmutenden, Personen
am Ort geht. Aber schon hier sei gesagt, dass die Personen im Buch nicht immer
nach erstem Anschein beurteilt werden können. Gregory wird ein anders Gesicht
noch zeigen im Lauf der Geschichte.
Und nun kam ein Hubschrauber, flog wieder weg, ohne dass Amy ihn gesehen hatte,
nur gehört, und da liegt nun dieser Mann eng zusammengeschnürt im Schnee. Der
erste, fassbare Hinweis, dass Allsecure, dass diese neue Welt für Amy, ihre
dunklen Ecken und Kanten hat. Was mit dem Mann passiert? Training oder Ernst?
Ein rascher Schnitt im Buch und unaufgelöst bleibt diese Szene im Raum stehen.
Unaufgelöst wie so manches, was durch die Seiten des Buches hinaus dringt.
Keine Abbrüche, die den eigentlichen Faden des Buches zerstören, denn der hat
nur am Rande etwas mit konkreten Ereignissen zu tun. Vielmehr lässt Streeruwitz
den Leser konsequent an der mäanderten Auflösung der Figur Amy teilhaben,
sicherlich gefördert durch Ereignisse des Buches, auslösende Momente in einer
Welt, die ebenfalls an den Rändern zu verschwimmen scheint und damit genau in
den Focus rückt, was heutzutage geschieht. Allsecure arbeitet unter anderem in
Afghanistan und setzt dort eben private, Firmenmaßstäbe an, nicht die Genfer
Menschenrechtskonvention. Und die Firma tut dies mit Billigung der Auftraggeber,
auch des Militärs. Amy selbst erlebt Formen von Zugriffen. Ist schwanger,
nachdem sie ihr alkoholgeschwängertes Bewusstsein verloren hatte, ist einige
Zeit später nicht mehr schwanger und weiß zunächst nicht, warum und wie das
sein kann.
Konsequent ereignet sich die Geschichte durch Amys Augen, durch ihre
assoziativen Gedankensprünge, durch ihre innere Zerrissenheit, eigentlich doch
am liebsten wieder in Wien, bei den Resten ihrer Familie, in ruhiger
Geborgenheit zu sein. Andererseits kommt sie zunächst nicht los von dieser
großen Chance, der neuen Aufgabe, tief verunsichert ob ihrer Fähigkeiten,
überhaupt, dort zu bestehen, tief verunsichert über das, was ihr von den
anderen entgegen gebracht wird.
Ein Zerfließen, ein "Hineingesogen werden", welches Streeruwitz
unnachahmlich im Sprachstil mit angelegt hat. Staccatoartige Sätze, manchmal
nur Wortfetzen, kaum gesagt, schon wieder anders gedreht. Gino, ihr Freund,
plötzlich durch einen Unfall schwer mitgenommen. Keine genaue Erinnerung daran
bei Amy. Cindy, die überall auftaucht, plötzlich hilfreich wirkt. Aber was
ist Realität, was nur überhitzte Fantasie? Ebenso, wie es für Amy schwer und
schwerer wird, durch das eng gespannte Netz der Firma, der Ereignisse einen
klaren Blick zu erlangen, ebenso wird der Leser mit hineingezogen in dieses
Gespinst grenzwertigen Handelns. Ereignisse, die um sich greifen, denen das Buch
ein Abbild der Realität gibt, indem es die Personen dahinter in den Blick
rückt.
Das Buch bietet einen intuitiven Blick auf die Auflösung fester Ränder und
Strukturen im Menschen und in der Gesellschaft und führt anhand der Figur der
Amy jene Auflösung und die daraus resultierenden Verwirrungen in einem stetigen
Fluss des Erlebens und Reagierens teils verstörend vor Augen. Ebenso
verstörend, wie, bei näherem Hinsehen, die großen Veränderungen auf
gesellschaftlicher Ebene ebenso langsam ja real erkennbar werden. In einer Welt,
in der Menschen zunehmend von außen, aber auch von innen her gefährdet sind.
Eine Welt, die mehr und mehr völlige Unsicherheit erzeugt, ebenso außen, wie
innen.
Fazit
Ein Buch wie eine leibhaftige Verunsicherung, in dem kaum etwas so ist, wie es
am Anfang scheint und die Hauptfigur eher einem reaktiven Spielball der
Ereignisse als der handelnden Person gleicht. Ein Buch, welches die zunehmende
Verwirrung, Unsicherheit und innere Gefährdung des Lebens in Form und Inhalt
spürbar in den Raum zu setzen vermag und das deswegen zu Recht auf der
Shortlist des deutschen Buchpreises steht.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 06. Oktober 2011 2011-10-06 12:39:09