Schauen wir uns heute im Lande um, so bedarf es nicht vieler Mühe um zu
erkennen, daß Politiker anscheinend und zunehmend eine Oligarchie der
Professionellen in einem allgemeinen Klima der Unverantwortlichkeit innerhalb
einer selbst geschaffenen pathologischen Normalität bilden, deren
suggerierendes Modell durch einen Mangel an wahrem Interesse daran geprägt ist,
intellektuelle Kreativität in Gänze zuzulassen. Deutschland geht es schlecht -
so der allgemeine emotionelle Kanon: die Arbeitslosigkeit steigt, die Wirtschaft
stagniert, die Staatskassen sind leer. Schuld daran seien die anderen:
Politiker, Manager, Gewerkschaften, Konzerne, Banken - nur wir nicht.
Zudem sind die Formen des inneren Niedergangs der Demokratie längst ausgemacht
und werden dahingehend kenntlich, daß das, was stets als die starke Mitte
gefeiert wurde, dahinschmilzt. Die Volksparteien verlieren an Bedeutung. An ihre
Stelle drängt ein apathisches Potential an Nicht- und Protestwählern. Die
Hälfte der Bevölkerung ist im Begriff, aus dem politischen System
auszusteigen. Der Einzelne scheint leidenschaftslos mit fertigen Modellen
beliefert zu werden, die nur noch Faulheit und Passivität als Essenz der Kultur
gelten lassen, die oft mit "Sozialstaat" gleichgesetzt wird. Ist unter
diesen Umständen ein entschiedener und leidenschaftlicher Aktionismus für die
Politik noch zu erlangen? Oder muss kulturelle Nahrung bestenfalls immer nur
Vergnügungen, Festmeile und Sensationen sein, anstelle substanzieller
Schaffensfreude?
Um entsprechend etwas zu verändern, müssten wir etwas aufgeben:
Denkgewohnheiten, Sicherheit, Besitz und Ansprüche. Provokant prangert Notker
Wolf im vorliegenden Buch genau jene deutschen Besitzstandswahrer an und zeigt,
wie wir durch ein ausdrückliches Mehr an Freiheit eine zukunftsorientierte
Gesellschaft werden können. "Nur motivierte und freie Menschen können
kreativ sein, und darauf wird es künftig immer stärker ankommen. Know-how,
Innovationskraft, Einfallsreichtum, Phantasie, darin liegt unsere Stärke, damit
können wir auch den globalen Wettbewerb bestehen." (173) Diese Worte
klingen wie Balsam für die Seele eines jeden, der sich heute nicht nur Gedanken
über Gott und die Welt macht, sondern dem es zudem auch um eine dezidiert
deutsche Zukunft geht.
Dieses Buch ist ein Buch der Besinnung genau in diese Richtung. Stets spürt man
die geistige Unabhängigkeit eines Mannes, der als "Chef" von 16.600
Nonnen und Schwestern und 8.400 Mönchen und als Verantwortlicher für die
Hochschule und das Kolleg von Sant’ Anselmo geistliche Aufgaben mit vielerlei
Managementpflichten zu vereinbaren hat. Sein Erfolg ließe sich also in die
politische Dimension hinein übertragen: Nur in offener Meinungsfreiheit, die
Abweichungen toleriert und im politischen Streit komplett austrägt, erwachsen
Mut, Authentizität und Kreativität. Bei Wolf klingt dieses Plädoyer zur
Bewahrung eines mutigen Ideal-Realismus so: "Und deshalb würde ich
Unternehmer und Vorgesetzte ermutigen, in ihren Betrieben eine Atmosphäre zu
schaffen, in der auch Querdenker ungeschützt ihre Meinung vorbringen
dürfen." (173) Hervorzuheben sind in diesem klugen, wenngleich
provozierendem Buch deshalb auch die Äußerungen zur Laisser-faire-Bewegung der
Achtundsechziger, mit der er hart ins Gericht geht, da sie selbst die Vernunft
zerstört habe. "Den wenigsten fällt auf, dass die Devise der
Selbstverwirklichung nichts anderes als die Umkehrung einer Naziparole ist.
"Du bist nichts, dein Volk ist alles!" hatte es im Dritten Reich
geheißen. "Du bist alles, dein Volk ist nichts!" soll jetzt richtig
sein. Doch das eine ist so falsch wie das andere. (68) - Also keine Ersetzung
eines Extrems durch das Andere, sondern reflektierte ganzheitliche Freiheit
steht im Mittelpunkt des Buches, welches den eigenverantwortlichen Leser
anspricht.
Und so muß nun auch eine große Vision, ein formeller Mythos der frühen
Nachkriegszeit für die Gegenwart völlig richtig dekonstruiert werden:
"Der Betreuungsstaat sozialdemokratischer Prägung ist bereits am
Ende." (16) Man könnte meinen, Wolf zitiere in diesem Zusammenhang
unbeabsichtigt Max Schelers Schrift "Vom Umsturz der Werte" (1919).
Dort nämlich heißt es, in Jugendbanden herrsche ein archaisches Milieu, dessen
Theorie deshalb - wie später im Falle der Achtundsechziger - gewaltsam werde,
weil der Mensch den Zufall, die Tatsache, daß überhaupt Welt ist, in demselben
Augenblicke entdecken müsse, wo er überhaupt sich selbst und seiner Welt
bewußt geworden ist. Der Geist und der Drang, die beiden Attribute des Seins,
würden so am Selbst jeder Person wachsen - wie in den sechziger Jahren, wo die
Archaik der Rebellion immer auch postpubertäre Selbstentdeckung war. Nur mit
verkehrter Konsequenz, die Wolf nun nicht im sozialdemokratischen
Versorgungsstaat sieht, sondern im Sinne Schelers im dezidierten autonomen
Einsatz der Person selbst, die sich dadurch erst auch zu wissen vermag. Diese
Person kennt keine Tabus im Denken und damit einen dauerhaft gültigen
Besitzstand im Politischen.
Konsequent fordert der Benediktiner deshalb ein autonomes und grundsätzliches
Umdenken - weg vom bundesdeutschen Primat der Gleichheit und vom Mythos der
Schuld hin zur Wiedererlangung der Freiheit, die keinen
pseudomoralisch-bewältigenden Obrigkeitsstaat braucht, keinen gehorsamen,
resignierten und bußbereiten Zivil-Bürger unter dem Schirm der sich selbst in
steuerfinanzierten Kongressen feiernden und nebulösen
"Zivilgesellschaft", sondern das Pathos des eigenverantwortlichen
Kampfes. Das Bedürfnis danach scheint in der Tat größer zu werden.
In 21 fließend geschriebenen Kapiteln wird vorbildlich und ermutigend ein
Plädoyer vorgelegt, das auf Selbstbewußtsein, Vertrauen, Stolz, Höflichkeit
und Respekt beruht. Es weist damit gerade den Deutschen, die mit diesem Wort
noch etwas ganz Spezielles verbinden, den Weg. Und dazu gehört - philosophisch
betrachtet - gerade die Konvergenz von Realismus und Idealismus, die sich beide
im Rahmen einer integralen Betrachtungsweise des Seins bedingen, sich aneinander
bewähren müssen und gerade deshalb nicht bei der ausschließlichen
Proklamation eines sozialen oder politischen Mythos stehenbleiben.
"Realismus aber schließt Visionen nicht aus." (217)
Fazit
Visionen begeistern und setzen Kräfte frei. - So auch dieses Buch.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 27. Januar 2008 2008-01-27 11:15:10