Ein enger Bekannter und Freund Immanuel Kants (1724-1804), Bernhard Jachmann,
schrieb in einer erst 1912 publizierten Schriftsammlung über seinen gelehrten
Freund: "Mehr aber als der tote Buchstabe, war der lebende Mensch
Gegenstand seines sorgfältigen Studiums. Er schätzte den Wert der Menschen
nicht nach dem bürgerlichen Marktpreise ab, sondern nach der sittlichen Würde,
zu der ein jeder berufen ist."
In der Tat, Kants Theorie ist die der Aufklärung und des Rationalismus mit dem
Ziel, den Menschen zur würdevollen Selbstbefreiung aus nicht durchschauten und
nicht bewußt übernommenen, sondern auferlegten religiösen, sozialen und
politischen Bindungen zu führen. Er wurde mit seiner kritizistischen
Transzendentalphilosophie zum eigentlichen Angelpunkt des neuzeitlichen Denkens
in Deutschland.
Hingegen basieren amerikanische Studien zur deutschen Philosophie, wie die von
John Dewey (Dewey, John 2000: Deutsche Philosophie und Deutsche Politik, hrsg.
von Axel Honneth, Berlin/Wien), die 1942 eine moralische Überlegenheit
amerikanischer politischer Geisteshaltung gegenüber einem vermeintlich
aggressiven "Sonderweg" Deutschlands erweisen sollte, auf einem
massiven Ressentiment. Seine These, daß für die Krise der NS-Barbarei der
kantische transzendentale Vernunftidealismus mit seiner Verabsolutierung von
Pflicht im Sinne einer sie ausübenden Gemeinschaft verantwortlich gewesen sei,
ist methodisch gewaltsam und leicht zu widerlegen. Die gegen den um seine
metaphysische Dimension verengten Empirismus ausgerichtete apriorische Tradition
deutscher Philosophie ergibt längst keine Stütze für den Bogen, den Dewey zum
Zweiten Weltkrieg schlägt. Umso begrüßenswerter ist es, daß in der
Studienbibliothek des Suhrkamp-Verlages die vorliegende zentrale Schrift Kants
erschienen ist, welche gerade die Fragen nach dem Wert des Menschen, den Sitten,
der Pflicht, dem freien Willen und damit in letzter Konsequenz die Frage nach
dem Wesen eines philosophischen "Sonderwegs" nunmehr gut leserlich und
kommentiert aufbereitet.
Es geht um die Frage, ob und wie Vernunft und Erfahrung zusammenzubringen sind
und welche Folgen sich daraus für die Geltung und Reichweite des Prinzips der
Subjektivität ergeben. Der Verstand erkennt die Dinge, weil er auf die
sinnliche Wahrnehmung angewiesen ist, nur als Erscheinungen, nämlich unter den
Anschauungsformen von Raum und Zeit. Das denkende Subjekt ermöglicht durch die
Weise seiner Erfahrungskenntnis den Zugriff auf die Objektivität der
Gegenstände. Kants Idee ist die entscheidende Idee der Freiheit. Sie wird aber
nur in praktischer Hinsicht erfahrbar. Für die theoretische Vernunft ist die
Idee der Freiheit wie die anderen eine bloß regulative Idee.
Freiheit bedeutet für Kant ein Durchbrechen des Gesetzes der Kausalität, unter
dem die theoretische Vernunft das Ganze der Natur ideell vorstellt. Darum betont
er in seiner "Metaphysik der Sitten", daß der freie Wille sich aus
eigenem Antrieb, d.h. aus Selbstursächlichkeit, als das Gesetz seines Handelns
selbst, ergibt. Er unterwirft sich keinem von außen auferlegten Gebot. Kant
schreibt weiter: "Die Metaphysik der Sitten soll die Idee und die
Prinzipien eines möglichen reinen Willens untersuchen, und nicht die Handlungen
und Bedingungen des menschlichen Wollens überhaupt." Kausalität aus
Freiheit - Willensfreiheit und Selbstgesetzgebung - das sind Kants
Freiheitsvorstellungen, die sich dem Leser hier eröffnen. Ein wichtiger Hinweis
muß aber gegeben werden: Der gute Wille bei Kant verdient nicht diesen Namen
durch das, was er vielleicht als Folge und materiellen Nutzen bewirkt, er ist an
sich gut, a priori - vor jeder nachfolgenden Erfahrung. Die nachträgliche
Erfahrung, beispielsweise eines Nutzens - a posteriori - gehört in die Sparte
der utilitaristischen Philosophie. Also keine konsequentialistische Ethik
möglichst nutzbringender Resultate bei Kant, sondern apriorische Maximen mit
Geltungsstatus. Es erleichtert die Lektüre ungemein, daß das Glossar dazu
zentrale kantische Begriffe erklärt, darunter "a priori", "a
posteriori", "Metaphysik", "Pflicht" oder
"Maxime".
Die Selbstgesetzgebung des Willens ist also nicht von der Natur bedingt, sondern
un-bedingt und damit allgemein und kategorisch. Sie muß prinzipiell zu allen
Zeiten und allen Umständen ohne Ausnahme gelten. Das führt Kant zum berühmten
Kategorischen Imperativ des Sittengesetzes als dem unbedingten Ausdruck des
Selbstgesetzgebung des freien Willens. Diese zentrale und immer wieder zitierte
Stelle befindet sich im vorliegenden Buch. Sie lautet: "Der kategorische
Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen
Maxime durch die zu zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz
werde." Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft als dessen
Bestandteil verlangt von jedem Individuum, so zu handeln, daß die Maxime seines
Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten
könnte. In Achtung für dieses Gesetz handeln, das erst heißt dann aus Pflicht
handeln. Freiheit und Verbindlichkeit sind somit identisch gesetzt.
"Pflicht" und "Maxime" stellen sich also - entgegen den
Anfeindungen Deweys - als völlig konstruktiv gemeinte Paradigmen dar.
"Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs
Gesetz."
Die Spannung zwischen Natur und Freiheit, Naturgesetz und Sittengesetz ist im
menschlichen Leben unaufhebbar; sie muß in immer wieder neuem Austrag
durchgehalten werden. Diese skeptische Sicht ist bei Kant mit der
fortschrittlichen Hoffnung verbunden, die Entwicklung des Menschengeschlechts
möge dahin gehen, der faktischen Wirksamkeit des Sittengesetzes und damit der
Freiheit immer mehr Raum zu verschaffen. Es gibt für Kant keinen Gott und keine
wohlgefügte Ordnung; es ist allein von den Menschen selbst und ihrer Vernunft
auszugehen - die kopernikanische Wende in der Philosophie. Der Verstand mußte
bisher dem Außenstehenden angepaßt werden. Kants neue Auffassung ist, daß die
Objektwelt sich nach dem Verstand des Subjektes als Mensch richten muß.
So ergeben sich bei Kant zwei Arten der Vernunft: Die "Theoretische
Vernunft" (Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
Was soll ich tun?) und daraus hervorgehend und repräsentativ in der hier
besprochenen Schrift abgehandelt die "Praktische Vernunft" (Pflicht)
mit den Kernaussagen, daß die Moral Produkt praktischer Vernunft ist und daß
der Mensch frei wählen könne. Das transzendentale Selbst (entgegen dem auf
Nutzen bedachten empirischen Selbst der angelsächsischen Wissenschaft) treibt
also von innen heraus zu einem autonomen Handeln. Wenn ich mich von der Vernunft
leiten lasse, dann ist das Freiheit, die als Autonomie des Willens besteht. Wenn
der Wille von außen gesteuert (empirisch)ist, ist er heteronom, d.h. nicht
frei. Alles Heteronome ist der Sittlichkeit des Willens entgegengesetzt.
Womöglich ist damit der so oft bezeichnete und philosophisch zu verortende
"Sonderweg" der deutschen Philosophie im Gegensatz zu anderem Denken
optimal erklärt. Am Ende stellt sich dieses deutsche Denken doch eigentlich nur
als ein Teil von vielen Sonderwegen in der europäischen Philosophiegeschichte
dar.
Etwa 250 Seiten ausführlicher inhaltlicher und historischer Einführungen,
Kommentare und Textbeschreibungen (darunter empfehlenswert: "Was ist eine
Ethik?") runden diese zentrale Schrift Kants ab. Sie führen tiefgründig
darauf hinaus, daß Kants Ethik deontologisch, d.h. eine Pflichtenlehre
(Deontologie) und sie universalistisch angedacht ist, also überall gelten soll.
Der Leser - insbesondere bei der vorliegenden Veröffentlichung - fühlt sich
bei Kant der Menschheit gegenüber verpflichtet. Die Würde des Menschen fällt
uns also nicht zu, sondern ist eine abgeleitete Größe des Denkens, zu der
jeder selbst qua Wille deontologisch beizutragen hat und auch soll. Die
Deontologie der Pflicht ist dabei keineswegs gleichzusetzen mit dem oft
gescholtenen preußischen "Kadavergehorsam" in Anlehnung an Heinrich
Manns Roman "Der Untertan". Vielmehr ist sie Ausdruck reflektierten
Denkens, welches zutiefst selbstkritisch ist, denn Kant - als preußischer
Philosoph - stellt sich die Frage des Zweiflers präventiv selbst: "Wie ist
ein kategorischer Imperativ möglich?" "Sollen" bei Kant wird
also zugleich als Qualifikation eines "Wollens" reflektiert. Dies ist
der Authentizität halber notwendig, welche aber für zahlreiche Kritiker Kants
nicht ausreichend gegeben war. Eine Rezeptionsgeschichte der Wirkung des
vorliegenden Buches geht schließlich auf Kontrahenten Kants ein, bspw. auf
Arthur Schopenhauer, der einwandte, Kant gehe auf eine Lehre der Theologie
zurück, weil er in diesem Sinne die Belohnung der Guten und Bestrafung der
Bösen postuliere. Das vorliegende Buch sich als erste Orientierung für
Theorieeinsteiger und schafft eine extrem fundierte und empfehlenswerte
Grundlage.
Fazit
Ein geeignetes Buch für philosophische Einsteiger.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 24. Oktober 2007 2007-10-24 12:40:56