Seit dreißig Jahren begleitet mich ein Büchlein, das mir für meine
Entwicklung und für meinen Beruf sehr wichtig geworden ist: "Interviews
mit Sterbenden" von Elisabeth Kübler-Ross. Die in den USA lebende
Schweizer Ärztin und Wissenschaftlerin, Wegbereiterin der Thanatologie
(Wissenschaft vom Sterben; griech. "thanatos" - der Tod), hat mit der
Veröffentlichung dieser Arbeit im Jahre 1969 Neuland betreten. Es war das erste
einer Reihe von Büchern dieser Autorin zu Fragen des Umgang mit dem Tod und mit
Menschen, die lebensbedrohlich krank sind, zu einem Thema also, das damals im
gesellschaftlichen Bewußtsein noch weit mehr tabuisiert worden ist als heute.
Ich hatte die Gelegenheit, dieser sehr engagierten und leidenschaftlichen Frau
persönlich zu begegnen und Briefe mit ihr zu auszutauschen, und das hat meine
Hochachtung vor ihr noch verstärkt.
Das Grundanliegen des Buches ist die Mahnung, daß vor dem Hintergrund des
unpersönlich-sterilen Kliniksystems der Schwerkranke als Individuum mit ganz
persönlichen Besonderheiten und Eigenarten, Gefühlen und Bedürfnissen
unbedingt im Vordergrund bleiben muß. Der Patient sollte zum Lehrer für die
medizinischen Mitarbeiter sowie seiner Angehörigen und Freunde werden, weil die
Personen in seiner direkten Umwelt ihrer begleitenden Aufgabe nur dann wirklich
gerecht werden können, wenn sie mehr, als bis dahin bekannt war, über die
Endstation des Lebens, über die Gedanken und Empfindungen, die Ängste und
Hoffnungen, die Kämpfe und Enttäuschungen von Sterbenden wissen.
Zu diesem Zweck deckt Elisabeth Kübler-Ross zunächst die Wurzeln der
irrationalen Angst unserer Gesellschaft vor dem Tod auf und die Ursachen dafür,
daß heute - im Unterschied zu früheren Zeiten - der Tod nicht mehr als
natürlicher Bestandteil des Lebens wahrgenommen wird, und sie arbeitet heraus,
wie verhängnisvoll dieses gestörte Verhältnis zum Tod sich auf das
Verhältnis zum sterbenden Menschen auswirkt. Indem sie ihre Leser dazu
ermuntert, den Tod in ihr Denken und Fühlen einzulassen, versucht sie, ihnen
ein Stück von der Unsicherheit zu nehmen, die immer wieder dazu verführt, den
Menschen im letzten und schwierigsten Abschnitt ihres Lebens - zumindest
emotional, oft aber auch räumlich - aus dem Wege zu gehen, und sie macht Mut,
sich ihnen ohne Scheu und Hilflosigkeit zuzuwenden und das letzte Stück
gemeinsam mit ihnen zu gehen. Wenngleich das Erscheinen dieses Buches auch eine
Generation zurückliegt, so ist es doch immer noch von aktueller Brisanz, denn
die Probleme unserer Gesellschaft und sehr vieler einzelner Menschen mit diesem
Thema sind noch immer nicht gelöst.
Die bedeutsamen Forschungsergebnisse der Autorin bezüglich der verschiedenen
psychischen Phasen, die lebensbedrohlich Erkrankte durchlaufen, bilden den
Schwerpunkt dieser Veröffentlichung. Sie hatte damals als erste herausgefunden,
daß es fünf Phasen sind, von denen das Erleben und Verhalten Sterbender
geprägt ist:
1. Die Phase der Leugnung
(Der Patient befindet sich in der Spannung zwischen Ahnen und Wissen einerseits
und dem Nicht-wahrhaben-Wollen andererseits, weil er die erschütternde
Realität der unheilvollen Prognose anfangs noch nicht zu ertragen imstande ist,
und er klammert sich an die Möglichkeit eines Irrtums. Diese Abwehrreaktion der
Verdrängung als Schutzfunktion der Seele gibt ihm die Möglichkeit, sich der
Tatsache rational und emotional erst später zu öffnen, wenn er die Kraft dazu
gesammelt hat.)
2. Die Phase des Zorns
(Der Patient erkennt nun, daß es ihn wirklich betrifft, und er lehnt sich
innerlich auf gegen ein als ungerecht empfundenes Schicksal oder gegen Gott. Er
ist erfüllt von Zorn, der sich gegen alles und jeden richtet.)
3. Die Phase des Verhandelns
(Der Patient hegt insgeheim die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang als
"Gegenleistung" für ein Gelübde: Er sucht mit dem Schicksal oder mit
Gott zu "handeln", indem er z.B. gelobt, etwas Gutes zu tun oder sein
Leben zu ändern, falls er aus der gegenwärtigen Todesbedrohung noch einmal
gerettet werden sollte.)
4. Die Phase der Depression
(Der Patient empfindet eine tiefe Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit, da er
spürt, daß der Tod unausweichlich ist und er Abschied nehmen muß von allem
und besonders von Menschen, die er liebt.)
5. Die Phase der Annahme
(Der Patient kann sich mit dem Unabwendbaren nun einverstanden erklären und
bereit sein zum Sterben. Aus diesem Annehmen-Können, das nur wenige Sterbende
erreichen, erwächst ihm eine neue psychische Stabilität und ein tiefer
Seelenfrieden, der von Angehörigen, die den Sterbenden nicht loslassen wollen,
leider oft wieder zerstört wird.)
Zu jeder dieser Phasen wird überzeugend erläutert, welche Verhaltensweisen der
Begleitenden jeweils angemessen und hilfreich sind und welche - irrtümlich gut
gemeinten - vermieden werden sollen.
Die Beschreibung dieser fünf Phasen (die übrigens keine zwangsläufige
Aufeinanderfolge darstellen und auch nicht in jedem Falle gleich verlaufen!)
veranschaulicht die Autorin mit zahlreichen Interviews, die sie mit Patienten im
Endstadium ihrer todbringenden Krankheit geführt hat.
Diese Methode war anfangs umstritten: Es wurde - besonders von katholischer
Seite - befürchtet, die Grenze der Intimspäre werde nicht ausreichend
berücksichtigt, wenn Menschen in einer Ausnahmesituation dazu veranlaßt
würden, über sehr sensible Fragen zu sprechen, die außer dem Betroffenen
selbst und Gott niemanden etwas angehen dürften. Die Scheu vor den
"Letzten Dingen" sollte daran hindern, Geheimnisse bloßlegen zu
wollen. Solche Bedenken sind schnell ausgeräumt, wenn man beim Lesen erkennt,
mit wieviel Gefühl und Taktempfinden die Fragen gestellt sind, und daß
selbstverständlich niemand zu antworten gedrängt worden ist, wenn er zu einer
Frage schweigen wollte. Aus den Gesprächsprotokollen ergibt sich aber vor allem
unmißverständlich, daß die Befragten über ihre psychische Befindlichkeit
(direkt und indirekt) sehr bereitwillig Auskunft gegeben und daß sie nach
dieser - sonst nicht möglich gewesenen! - Gelegenheit, sich einmal rückhaltlos
aussprechen zu können, ein Gefühl der Erleichterung und der Befriedigung
gehabt haben.
In weiteren Kapiteln geht Elisabeth Kübler-Ross auf das Phänomen der Hoffnung
des Sterbenden ein, die trotz seinem Wissen um den nahen Tod nie ganz
verschwindet, sondern - in ihrem Inhalt immer wieder verändert - bis zum
letzten Atemzuge bleibt, auf die Familie des Kranken und Besonderheiten und
Möglichkeiten in der Abschiedszeit sowie auf Grundsätze der psychischen
Behandlung Kranker im Endstadium. Dem Buch ist eine ausführliche Erklärung
medizinischer Fachbegriffe hinzugefügt und (zumindest in meiner Ausgabe) ein
Nachwort des Theologen Manfred Haustein.
Damals, da ich als Student das neu erschienene Buch zum ersten Male las, fand
ich zu sehr wichtigen Erkenntnissen:
Ich sollte die Gedanken an den Tod nicht verdrängen und die Auseinandersetzung
damit nicht vor mir her schieben, bis ich ihr nicht mehr ausweichen kann. Es ist
klug, ab und zu an die Begrenztheit meines Lebens und das der Menschen denken,
die mir am Herzen liegen, ehe die Wirklichkeit mich unbarmherzig damit
konfrontiert und mich brutal mit der Nase darauf stößt. Dieses Nachdenken
über den Tod war seitdem sehr hilfreich und heilsam für mich. Außerdem
erkannte ich, daß es ein Weg zum Frieden ist, meinem persönlichen und dem in
meinen zwischenmenschlichen Beziehungen. Elisabeth Kübler-Ross hat recht, wenn
sie schreibt, daß wir auch dem Frieden zwischen den Völkern einen Schritt
näher kämen, "wenn wir der Realität unseres eigenen Todes ins Auge
sähen und ihn annähmen".
Fazit
Deshalb ist dieses Buch nicht nur für diejenigen geschrieben, die jetzt mit dem
Tod konfrontiert sind. Ich möchte es daher allen Menschen empfehlen, die ihn
aus ihren Gedanken verdrängen, weil sie meinen, solange man jung und gesund
sei, brauche man sich damit nicht zu befassen. Dabei wissen wir doch, daß wir
uns damit nur selbst belügen. "Interviews mit Sterbenden" ist auch
kein Fachbuch für Mediziner oder Psychologen, seine Sprache ist
allgemeinverständlich und gefühlvoll und hat mich sehr berührt. Dazu tragen
nicht zuletzt die treffenden und zum Nachdenken anregenden Worte von
Rabindranath Tagore bei, die jedem Kapitel vorangestellt sind.
Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner
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veröffentlicht am 27. November 2002 2002-11-27 00:00:01